Neues Erdzeitalter: Rezepte für das Anthropozän
Wissenschaftler befassen sich in einem Comic mit den Chancen und Gefahren des menschengemachten Erdzeitalters.
Sollte uns da etwas entgangen sein? Ein neues Erdzeitalter ist angebrochen. Das Holozän, die seit 11 000 Jahren anhaltende Warmzeit nach der letzten Eiszeit, wurde abgelöst durch das Anthropozän. Bekommt die Menschheit also ihr eigenes geologisches Zeitalter? Experten diskutieren zwar noch, doch für Forscher wie den Geologen und Paläontologen Professor Reinhold Leinfelder von der Freien Universität Berlin besteht kein Zweifel: Der Mensch ist zu einem wesentlichen Faktor im System Erde geworden. Eine These, die Klimaforscher Paul Crutzen erstmals im Jahr 2000 aufstellte.
Die Fakten sind eindeutig: „80 Prozent der Erde sind keine Ur-Natur mehr. Mensch und Nutztiere machen 90 Prozent der Biomasse aller Säugetiere auf der Erde aus. Wir haben das gesamte Süßwassersystem im Griff, schichten 30 Mal mehr Sedimente um, als Naturgewalten es könnten und produzieren jährlich so viel Plastik, wie es der Biomasse der gesamten Menschheit entspricht“, zählt Leinfelder auf. Wir produzieren sogar eigene Fossilien: „Techno-Fossilien“ aus Plastikpartikeln, Aluminium und Bauschutt, die sich in Ozeanen und Gebirgsseen ablagern. Kurz: Homo sapiens ist heute eine geologische Kraft – vergleichbar mit Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Kontinentalverschiebungen.
An Erdproben lässt sich die Zeitenwende ziemlich exakt ablesen – um 1950 herum war das, sagt Reinhold Leinfelder. „Seit dieser Zeit finden wir Aschen, die nur bei industriellen Verbrennungsprozessen entstehen und den radioaktiven Niederschlägen der Atombombenversuche der 1950er und 1960er Jahre.“
Aber was bedeutet das Anthropozän für uns? Und wie geht es weiter? In der „Anthropozän-Küche“, einem Projekt des Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin, identifiziert Reinhold Leinfelder gemeinsam mit Kollegen verschiedener Fachrichtungen die Herausforderungen und entwickelt Zukunftsszenarien für das neue Zeitalter. „Küche“ ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen, denn anhand der Frage „Wie ernährt sich die Welt?“ lässt sich gleich ein ganzes Büffet voller anthropozän-relevanter Aspekte abräumen. In unser tägliches Essen spielten Globalisierung, Klimawandel, Biodiversität und Ressourcennutzung ebenso hinein wie Energieversorgung, weltweite Stoffflüsse und der ganz persönliche Lebensstil, sagt Reinhold Leinfelder.
Zehn Menschen aus fünf Kontinenten berichten von ihren Essgewohnheiten
Erste Ergebnisse des Experiments, an dem Menschen aus fünf Kontinenten teilgenommen haben, werden nun in einem gleichnamigen Wissenschafts-Comic veröffentlicht. Er wird gemeinsam herausgegeben von Reinhold Leinfelder, der Mediengestalterin Alexandra Hamann sowie Jens Kirstein und Marc Schleunitz, zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern des Instituts für Geologische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, die an dem Projekt Anthropozän-Küche beteiligt sind. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts und über persönliche Kontakte fanden die Forscher zehn geeignete Protagonisten auf fünf Kontinenten und fragten sie: Was isst Du? Wo kaufst Du ein? Wie bereitest Du Dein Essen zu? Mit wem isst Du gemeinsam, und was ist Dein Lieblingsrezept? Ein Künstler aus dem jeweiligen Land setzte die Essenz der Gespräche dann in Bilder um. „Wir waren sehr gespannt, ob die kulturelle Vielfalt, die wir beim Essen noch haben, auch in den Zeichenstilen herauskommt“, sagt Leinfelder.
Das ist definitiv gelungen. Einem Essay und einem einleitenden Comic folgen zehn Geschichten, jede so individuell illustriert wie das Land, von dem sie erzählt. Während die Figuren über ihre Ernährung plaudern, geben sie ganz nebenbei Einblick in eine Herausforderung, die das Anthropozän in ihrer Heimat mit sich bringt. Paloma aus Los Angeles zum Beispiel ernährt sich am liebsten von Junkfood. Fettsucht und Fitnesswahn als Antipoden stehen da zwangsläufig im Raum. Sophie aus Berlin macht sich Gedanken über den hohen Fleischkonsum, für den andernorts genmanipulierte Futtermittel produziert werden. Wie wär’s mit Insektenproteinen statt Schwein aus Massentierhaltung? Yuko aus Tokio kann nicht ohne ihren Coffee to go im Einweg-Becher, gerät aber beim Einkaufen angesichts der plastikverpackten Lebensmittel schwer ins Grübeln. Als verbindendes Element bringt sich immer wieder ein kugelrundes Kerlchen ins Spiel, das durch jede Geschichte läuft – das chemische Element Phosphor, meist „in Gesellschaft“ von vier Sauerstoffatomen als Phosphat. Kurz nach dem Urknall war es schon da und vom Urschleim als Ausgangsstoff der belebten Natur bis zur komplexen DNA in den Zellen höherer Lebewesen immer dabei. Als universelle Energiequelle jeder Zelle, als Düngemittel und selbst in Cola-Getränken – Phosphor ist unverzichtbar und wird langsam knapp!
Welchen Weg wird die Menschheit im Anthropozän einschlagen, damit unsere Erde auch in Zukunft lebenswert bleibt? Darüber diskutieren Forscher weltweit. Unter anderem in der Anthropocene Working Group der International Commission on Stratigraphy, deren Mitglied Leinfelder ist. Kulturwissenschaftler, Architekten, Philosophen und Geologen reden sich dort mit Historikern, Klimaforschern und Biologen die Köpfe heiß. Vier Szenarien hat Leinfelder entworfen. „Weniger ist mehr“ zum Beispiel. Das heißt: Energie sparen, kleinere Häuser bauen. Und beim Essen? Vegetarisch! Vegan! Lokal! Ein weiteres Szenario heißt: Sich „Die Natur als Vorbild“ nehmen: Algen- und Insektenfood, Biomaterialien, erneuerbare Energien und viele andere Möglichkeiten gibt es. Drittens „Symptome bekämpfen“: Produktivität steigern, robustere Pflanzen züchten, Ressourcen schonen, Verschmutzung der Ozeane stoppen. Und zuletzt „Future Tech“: Hochhaus-Farming mit Gemüseanbau auf mehreren Stockwerken, Essen aus dem 3D-Drucker, Nanotechnologie und dergleichen mehr. „Ein ausbalancierter Mix aus allem wäre wohl das Beste“, sagt Reinhold Leinfelder, der solche Szenarien auch für das im Aufbau befindliche „Haus der Zukunft“ in Berlin entwickelt, welches er seit September 2014 leitet.
Das Buch wirft auch einen Blick in die Zukunft
Auch das Buch spart die Zukunft nicht aus: Nachdem die Zeichner ausgiebig mit Wissenschaftlern diskutiert hatten, gingen sie erneut ans Werk. Sie beamten ihre Protagonisten in das Jahr 2050, schickten sie auf Reisen und baten sie, Postkarten in die Heimat schreiben. Da entspannt sich der einst zuckersüchtige Brasilianer Heitor beim Yoga in Indien und speckt (dank fast fett- und zuckerfreier Ernährung) nebenbei ordentlich ab. Imker François eröffnet in Tokyo ein Insektensushi-Restaurant für Prominente. Moli und Dahai schreiben ihrer Tochter in Peking aus Berlin, wo der „fliegende Garten“ von Volkswagen regelmäßig frisches Biogemüse aus der Region ins Haus liefert. Lautlos schwebend und gänzlich abgasfrei, versteht sich.
Komplexe natur- und gesellschaftswissenschaftliche Zusammenhänge wurden selten so locker und leichtfüßig vermittelt wie in diesem Buch, das für Leser von 14 bis 100 Jahren gedacht ist. Für jeden also, der im Hier und Jetzt lebt und den Blick nach vorn richten möchte. Leckere Rezepte zum Ausprobieren sind natürlich auch dabei. Derzeit sitzen die Autoren an einem Lehrerhandbuch, das ausführliche Quellen, weitere Ressourcen, konzeptionelle Methoden und Experimente für den Projektunterricht enthält.
Abgesehen davon, dass er sich ein fades Hähnchenragout in der Mensa schon mal mit knackigen Insektenbröseln aufpeppt: Welche Visionen hat Reinhold Leinfelder selbst für das neue Zeitalter? Aus der Tatsache, dass der Mensch zur geologischen Kraft wurde, ergibt sich für ihn das Gebot, Verantwortung zu übernehmen: „Die Ressourcen sind endlich und Business as usual wird es in vielen Bereichen nicht mehr geben. Doch mit all dem Wissen, das wir haben, können wir die Dinge ins Positive kehren und ein funktionierendes Erdsystem schaffen, das Heimat und Entwicklungschancen für viele künftige Generationen bietet.“ Den Dualismus – mit der „guten“ Natur auf der einen Seite und dem „schlechten“ Menschen auf der anderen – würde er gerne aufheben. „Als Teil des Erdsystems sind wir auch Teil der Natur. Alles hängt mit allem zusammen. Selbst unsere Hightech-Materialien stammen aus der Natur. Wir formen sie lediglich mit Energie um.“ Bewältigen wir die Herausforderungen, kann das Anthropozän sehr, sehr lange dauern, ist Leinfelder überzeugt. „Machen wir es aber schlecht, wird es eine denkbar kurze Epoche in der Erdgeschichte“, mahnt Leinfelder. Wir haben es selbst in der Hand.
Die Anthopozän-Küche: Matooke, Bienenstich und Phosphor – in zehn Speisen um die Welt. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2016. ISBN 978-3-662-49871-2. 24,99 Euro. Internet: anthropozaen-kueche.de
Catarina Pietschmann