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Willkommen bei der Bundeswehr. Schüler einer Sekundarschule aus Halberstadt besuchten Ende Mai eine Kaserne in der Region.
© dapd

Bundeswehr: Rekruten aus dem Klassenzimmer

Die ausgesetzte Wehrpflicht hat die Nachwuchssorgen der Bundeswehr nicht eben kleiner gemacht. Darum wirbt die Truppe nun verstärkt um Freiwillige - an Schulen.

Keine Befehle, keine Camouflage, dafür bunte Weltkarten und Spielgeld aus Plastik: Beim Schülerworkshop auf Schloss Trebnitz in Brandenburg kommt die Bundeswehr zivil daher. Die Offiziere machen hier bildungspolitische Arbeit statt Marschübungen.

In einem Prunksaal des Schlosses steht Pierre Robert Gracz, um ihn herum wuseln Jungen und Mädchen in engen Jeans und T-Shirts. Die rund 40 Jugendlichen gehören zu zwei Berliner Klassen, die an einem Planspiel teilnehmen. Über mehrere Tage hinweg schlüpfen sie in die Rollen von Staats- und Regierungschefs, um die große Politik besser zu verstehen. Gerade sind die Schüler, alle um die 18 Jahre, mitten in einer fiktiven Beratungssitzung des UN-Sicherheitsrats. Sie debattieren, tuscheln, gestikulieren. Streitpunkt: militärische Intervention gegen die Piraterie vor Mogadischu – ja oder nein? „Infanterie!“, ruft ein Junge. „Aber was ist mit den Menschen?“, fragt ein Mädchen. Dass alles nur ein Spiel ist, scheinen die meisten der Schülerinnen und Schüler fast vergessen zu haben.

Seit Aussetzung der Wehrpflicht hat die Bundeswehr ein massives Nachwuchsproblem. Jugendliche, die sich freiwillig zum Dienst an der Waffe melden, sind schwer zu finden. Allein für 2011 werden noch 2000 Rekruten gesucht, sagt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, im nächsten Jahr könnte die Lage noch dramatischer werden. Deshalb müsse man nun die Nachwuchswerbung intensivieren, der Etat sei hierfür massiv erhöht worden. Gymnasien, Real-, Haupt- und Berufsschulen haben die Strategen im Verteidigungsministerium dabei als wichtiges Werbefeld ausgemacht. Verteidigungsminister Thomas De Maizière kündigte Mitte Mai an, nicht mehr die Kreiswehrersatzämter sollten künftig neue Rekruten gewinnen: „Die Mitarbeiter müssen raus in die Schulen, raus in die Sportvereine und dort werben.“

Leutnant Gracz, dunkelblaue Marineuniform, Abzeichen auf der linken Brust, sieht sich als Teil dieses Werbefeldzugs. Gracz ist Jugendoffizier. Bis zu hundertmal im Jahr hält er Vorträge vor Berliner Schülern. Seine Themen reichen vom Afghanistan-Einsatz bis zum Welthungerproblem, alles erklärt er den Schülern. Ziel sei es, Verständnis für internationale Politik zu schaffen – und nebenher Aufmerksamkeit für die Bundeswehr. Gracz nennt das „Image-Werbung für die Streitkräfte“. Gracz’ Arbeit macht indes nur einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit seines Arbeitgebers aus. Für die eigentliche Rekrutierung sind bislang sogenannte Wehrdienstberater zuständig.

Michael Schulze-Glaßer von der Informationsstelle Militarisierung (IMI), einem bundeswehrkritischen Verein aus Tübingen, kritisiert dieses Vorgehen des Verteidigungsministeriums. „Soldaten haben an Schulen nichts zu suchen“, sagt Schulze-Glaßer. Da sei es gleich, ob es sich um Jugendoffiziere oder Wehrdienstberater handele. Die Armee sei schließlich kein normales Unternehmen, das unverbindlich für sich werben dürfe. Im Endeffekt gehe es beim Soldatenberuf ums Töten. Deshalb ärgert es Schulze-Glaßer, dass die Bundeswehr massiv in die Nachwuchswerbung investiert – und die Zivilgesellschaft dabei einfach überrumpele.

Die Veranstaltungsdichte habe massiv zugenommen, sagt Schulze-Glaßer. Jugendoffiziere hätten im vergangenen Jahr bundesweit rund 6000 Vorträge an Schulen gehalten, das wäre eine Zunahme um rund ein Drittel, dazu kämen gut 12 000 Auftritte von Wehrdienstberatern. Der Bundeswehrsprecher bestreitet diese Zahlen, liefert aber auch keine anderen, die einen Überblick zuließen.

Für Bundeswehrgegner wie Schulze-Glaßer ist nicht allein das Ausmaß der Nachwuchswerbung ein Problem, die Einseitigkeit der Veranstaltungen stört sie. Eigentlich ist bildungspolitische Arbeit wie auf Schloss Trebnitz nämlich streng reglementiert – allerdings werden die Vorschriften selten eingehalten. Seit 1976 schreiben Grundsätze der bildungspolitischen Arbeit vor, dass kritische Themen kontrovers dargestellt werden müssen. Für Jugendoffiziere an Schulen hieße das: Dozieren sie über den Afghanistan-Einsatz, müsste gleichzeitig auch immer die Gegenseite anwesend sein – also etwa ein Friedensaktivist.

Das ist eine sehr weit gehende Auslegung des „Beutelsbacher Konsenses“ zur politischen Bildung. Danach müssen Themen, die in der Gesellschaft kontrovers sind, zwar „auch im Unterricht kontrovers erscheinen“. Die Rolle, alternative Standpunkte herauszuarbeiten, könnte aber der Lehrer erfüllen, heißt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Schulze-Glaßer kritisiert auch Kooperationsabkommen von acht Bundesländern mit der Bundeswehr. Deren Ziel ist eine „Intensivierung der Zusammenarbeit im Rahmen der politischen Bildung“. Berlin hat noch keine solche Vereinbarung getroffen.

Allerdings scheint Schulze-Glaßer für eine Klientel zu kämpfen, die sich des Problems gar nicht bewusst ist – oder es schlicht anders beurteilt. Die Lehrerinnen in Schloss Trebnitz jedenfalls freuen sich während der Simulation über die Begeisterung, mit der ihre Schüler Probleme der internationalen Politik diskutieren. Anna-Leena Bahrmann, Lehrerin für Geschichte und Sozialkunde, sagt: „Die Simulation erschließt neue Stoffe.“

Dass die Informationen dabei von Soldaten vermittelt werden, sieht sie nicht als Problem. Vielleicht auch, weil sie den Schülern mehr zutraut als die Bundeswehrgegner: Die Jugendlichen seien schon kritisch genug, da würde sich niemand „überrumpeln“ lassen. Außerdem seien die bildungspolitischen Grundsätze in ihren Idealen zwar durchaus unterstützenswert – leider aber für den schulischen Alltag ungeeignet. Denn wie, so fragen Bahrmann und ihre Kolleginnen, sollen denn in eine einzige Schulstunde Jugendoffizier und Friedensaktivist mit ihren gegensätzlichen Meinungen passen?

Und was sagen die Schüler? In Schloss Trebnitz ist viel Uniform zu sehen: drei Jugendoffiziere, dazu der Stabsoffizier für Öffentlichkeitsarbeit des Standortkommandos Berlin. Die meisten Schüler scheint das nicht zu stören, sie stehen der Bundeswehr gleichgültig bis positiv gegenüber. Die Uniformen und Abzeichen seien anfangs irritierend gewesen, sagt eine Schülerin, aber sie habe sich schnell daran gewöhnt. Ein Junge freut sich: „Ich finde es schön, dass sich die Jugendoffiziere so lange um uns kümmern und uns alles erklären.“ Wirklich kritisch ist niemand. Alle freuen sich eher, ein paar Tage aus der Schule herausgekommen zu sein, etwas geboten zu bekommen. In der Kaffeepause sagt ein Junge: „Klar soll’s nachher noch Krieg geben, ist ja nur ein Spiel, wäre doch sonst langweilig.“

Um ein angebliches Kriegsspiel hat es Ende Mai bei einer Schau in der Bundeswehr-Kaserne in Bad Reichenhall einen Eklat gegeben: Dort ließen Soldaten offenbar Kinder mit Waffenimitaten auf die Miniaturstadt „Klein-Mitrovica“ zielen. In der echten Stadt Mitrovica im Kosovo begingen deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg Gräueltaten. Die Bundeswehr hat am Montag angekündigt, ihre internen Ermittlungen zu dem Vorfall rasch abzuschließen und dann dazu Stellung zu nehmen.

Sebastian Kempkens

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