Jugendliche Schulschwänzer: Reden statt drohen
Was hilft gegen das Schwänzen? Verhängen Schulen Strafen, ist das oft kontraproduktiv, sagt die Münchner Bildungsforscherin Christine Sälzer.
Insgesamt 1000-mal schwänzte ein 17-jähriger Berliner die Schule. Nachdem die Mutter des Jungen kürzlich zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde, kündigte Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) wie berichtet an, mehr Sozialarbeiter in die Schulen zu schicken und „die Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen“. Gleichzeitig sollen Schulen ihre Schwänzer konsequenter an die Jugendämter melden, Anzeigen müssten früher gestellt und Bußgelder schneller verhängt werden. Der Fall des 17-Jährigen wirft ein Schlaglicht auf ein weit verbreitetes Problem. In Berlin werden pro Jahr rund 3500 Schüler registriert, die an mehr als zehn Tagen unentschuldigt fehlen.
Doch ein autoritäres Vorgehen beeindruckt Schulschwänzer wenig. Das zumindest legt eine Studie der Bildungsforscherin Christine Sälzer nahe. „Administrative Maßnahmen und die Fokussierung auf die Eltern blenden die Rolle der Schulen aus“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Education der TU München. Ausschlaggebend seien das Schulklima und der pädagogische Umgang mit dem Schwänzen. Sälzer befragte im November 2011 bundesweit 1640 Zehntklässler an 82 Sekundarschulen und Gymnasien. Während frühere Studien vor allem den familiären Hintergrund und die Schulleistungen untersucht hätten, stelle sie das individuelle Verhalten der Schüler und den Umgang der Schule damit ins Zentrum, erklärt Sälzer. Die Jugendlichen konnten ihre Motive, der Schule gelegentlich fernzubleiben, in einer Liste ankreuzen und weitere Gründe in einer offenen Frage nennen. Ihre Studie stellte Sälzer jetzt auf der Konferenz der europäischen Bildungsforscher „EARLI“ in München vor.
Zwei Gruppen von Schulschwänzern hat Sälzer identifiziert: Gruppe eins bleibe der Schule „unter Druck“ fern. Diese Schüler fürchten Konsequenzen, weil sie Arbeiten nicht vorbereitet oder Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie schwänzten weitaus häufiger als Schüler der Gruppe zwei, die eher soziale Gründe haben. Für sie sei das Schwänzen eine Strategie, um unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen, sagt Sälzer. Sie gaben an, sich im Unterricht zu langweilen oder Probleme mit Klassenkameraden oder Lehrkräften zu haben. Jeder zweite der befragten Zehntklässler gab zu, im aktuellen Schuljahr schon mindestens einmal geschwänzt zu haben. Nur ein Prozent bekannte sich zu sehr häufigem Schwänzen mit mehrtägigen Fehlzeiten.
"Tolerante Schulen" fragen nicht nach Gründen
Die Vielfalt der Gründe mache es schwierig für Schulen, effektive Strategien gegen das Schwänzen zu entwickeln, sagt Sälzer. Gleichwohl ließen sich drei Typen der Schulkultur unterscheiden: An „autoritären Schulen“ werden Schulschwänzer zum Schulleiter beordert oder zu einem Gespräch mit dem Schulpsychologen geschickt. Beide würden in der Regel Strafen androhen oder verhängen und stets die Eltern benachrichtigen. „Permissive beziehungsweise tolerante Schulen“ geben sich mit einer nachgereichten Entschuldigung für angebliche Krankheiten zufrieden, ohne nach den Gründen zu fragen. Vielfach wird das Fernbleiben auch ignoriert. In Schulen, die einen „autoritativen“, also verbindlich-entschiedenen Stil pflegen, werden Schulschwänzer dagegen vom Lehrer direkt konfrontiert, die Eltern nicht umgehend benachrichtigt.
Eine Strafandrohung bringt wenig, wenn sie "von oben" erfolgt
Dass Schüler an autoritären Schulen am häufigsten schwänzen, klingt zunächst überraschend. Sälzer erklärt es so: Eine Strafandrohung oder Bestrafung „von oben“ würden sie sich nicht wirklich zu Herzen nehmen oder sich dadurch noch in ihrer Rebellion bestätigt sehen. Möglicherweise sei das Schulklima an diesen Schulen auch eher unangenehm. Weniger geschwänzt wird an toleranten Schulen. Weil das Fernbleiben nicht ernst genommen wird, können die Schüler es auch nicht als Provokation gegenüber der Schule einsetzen, sagt Sälzer. Offenbar fühlten sie sich an diesen Schulen auch wohler als an autoritären Schulen und gingen deshalb regelmäßiger hin.
Auf die Lehrkraft kommt es an
Die niedrigsten Quoten seien allerdings an autoritativen Schulen zu beobachten. Dort scheint es zu helfen, dass die Lehrkräfte die Jugendlichen persönlich „zur Verantwortung ziehen“. Dies sei besonders bei Heranwachsenden wichtig, die mit 15, 16 Jahren der Autorität ihrer Eltern entwachsen und eigene Haltungen und Wertvorstellungen entwickeln, betont Sälzer. Sie stellen die von Eltern und von der Schule aufgestellten Regeln gleichermaßen infrage. Doch die Lehrkräfte „gehen den Schülern richtig auf die Nerven“. „Wenn sie etwa sagen: ,Ich merke, dass etwas nicht stimmt mit deiner Entschuldigung, deine Krankheiten beschränken sich auf einzelne Lehrer oder Fächer’, müssen sich die Schüler dazu verhalten“, erklärt die Bildungsforscherin.
Auf die Lehrkraft also kommt es an. „Sie ist nun einmal die Bezugsperson, die täglich unmittelbar mit den Schülern zu tun hat“, sagt Sälzer. Lehrerinnen und Lehrern müssten den Jugendlichen klarmachen, dass von ihnen erwartet wird, an jeder Stunde teilzunehmen. Ihren verbindlichen Umgang mit den Schülern sollten sie zur täglichen Routine machen. Ob sie dazu pädagogisch auch in der Lage sind, dürfe nicht dem Zufall überlassen werden. Schulen und Behörden könnten Lehrerfortbildungen entwickeln – und so dem Schwänzen effektiver als bisher begegnen.
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