Welt ohne Mitgefühl: Psychopathen vor dem Richter
Was bedeutet ein psychiatrisches Gutachten vor Gericht? US-amerikanische Forscher haben Richter befragt, ob biologische Erklärungen ihre Urteilsfindung beeinflussen.
Mit einer halbautomatischen Waffe in der Hand stürmt der 24-jährige Jonathan Donahue in einen Burger King und verlangt Geld. Als der Imbissmanager zögert, lässt Donahue ihn niederknien. Immer wieder schlägt er mit der Waffe auf den Kopf seines Opfers ein. Der Imbissmanager fällt für 20 Tage ins Koma, sein Gehirn ist dauerhaft geschädigt. Donahue wird festgenommen.
Ein Gutachter stellt noch vor der Gerichtsverhandlung fest, dass Donahue ein Psychopath sei. Hilft ihm das? Der Fall ist Fiktion, beruht aber auf einer wahren Begebenheit. In einer anonymen Befragung wollte ein Forscherteam der Universität von Utah von 181 Richtern aus 19 amerikanischen Bundesstaaten wissen, ob sie sich von so einer Diagnose und biologischen Erklärungen des Persönlichkeitsmusters beeindrucken lassen und wie sich das auf ihre Urteilsfindung auswirkt.
Wie das Team um James Tabery im Fachmagazin „Science“ berichtet, ist die Schublade „Psychopath“ für einen Angeklagten keinesfalls strafmildernd. Verurteilten die Richter ähnliche Verbrecher sonst zu neun bis zehn Jahren Gefängnis, lag hier der durchschnittliche Urteilsspruch bei fast 14 Jahren. Die Zeit hinter Gittern verringerte sich auf etwa 13 Jahre, wenn ein Gutachter den Richtern zusätzlich die biologischen Grundlagen der Psychopathie erklärte.
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Das Bild, das sich die Öffentlichkeit anhand von Hollywoodfiguren wie Hannibal Lecter von Psychopathen macht, ist bestenfalls unvollständig. Sie sind nicht verrückt. „Ihr Verstand ist völlig in Ordnung“, sagt Robert Hare, Kriminalpsychologe an der Universität von British Columbia in Vancouver und Pionier der Erforschung dieses Persönlichkeitsmusters. Psychopathen sind mitunter sehr intelligent, sie wissen, was richtig und was falsch ist. Sie können sich rein rational in ihr Gegenüber hineinversetzen und dessen Perspektive übernehmen. Was ihnen fehlt, ist Empathie. Weil sie Gefühle wie Liebe oder Angst nicht kennen, können sie weder Mitgefühl noch Schuldbewusstsein oder Reue empfinden, erklärt Hare. Sie wirken zunächst charmant, sind aber tatsächlich seltsam kalt. Für Robert Hare sind sie „perfekt angepasste Raubtiere“. Sie sind Meister darin, die Schwächen ihrer Mitmenschen zu finden und nutzen sie skrupellos für ihre Zwecke aus. „Aus der Sicht eines Psychopathen sind wir es, die eine Fehlfunktion haben“, sagt Hare. „Emotionen machen angreifbar.“
Wie verhalten sich Psychopathen im Alltag?
Über zehntausende Jahre war das ein Vorteil, sagt Hans-Ludwig Kröber, der bekannteste deutsche Kriminalpsychiater und Direktor der forensischen Psychiatrie der Charité. Frei von Angst bewahren sie selbst im Krieg einen kühlen Kopf. Manche schaffen es in die Führungsetagen großer Unternehmen. „Die erfolgreichen Psychopathen haben gelernt, andere für ihre egozentrischen Ziele einzuspannen, ohne dabei Gesetze zu brechen“, sagt Kröber. „Im Alltag möchten wir ihnen aber nicht begegnen. Sie ziehen einfach ihr Ding durch.“
Nur fünf bis zehn Prozent der Insassen deutscher Gefängnisse seien Psychopathen. „Die Mehrzahl ist aus anderen Gründen gefährlich“, sagt Kröber. Um zum Mörder zu werden, brauche man nicht einmal ein abnormes Gehirn. So spielt in deutschen Gerichtsverhandlungen die Diagnose Psychopath auch kaum eine Rolle. Wichtig sei sie dagegen bei der Beurteilung, ob ein Straftäter vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden kann: „Wer dieses Etikett erhält, gilt als dauerhaft gefährlich und nicht therapierbar.“
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Die Merkmalsliste, die dann zum Einsatz kommt, hat Hare entwickelt: die Psychopathy Checklist oder PCL-R. Weltweit ist sie der Goldstandard für die Diagnose. Die 20 Unterpunkte reichen von oberflächlichem Charme und Impulsivität über Lügen, Kaltschnäuzigkeit und fehlende Empathie bis zur Jugendkriminalität. Wer in den Interviews eine Punktzahl von 30 bis 40 erreicht, gilt als Psychopath – eine beliebige Festsetzung, wie Hare zugibt. Bis heute ist nicht geklärt, ob Psychopathie ein Verhaltensspektrum ist oder eine trennscharfe Kategorie. Kröber drängt darauf, sehr vorsichtig mit einer solchen Diagnose umzugehen.
Die Hirnforschung hat gerade erst begonnen, nach den biologischen Ursachen für dieses Persönlichkeitsmuster zu suchen. Kent Kiehl von der Universität von New Mexico und Schüler von Hare hat mehr als 2000 Gehirne von verurteilten Verbrechern in einem mobilen Magnetresonanztomografen durchleuchtet. Für ihn ist der Schlüssel zur gefühllosen Welt der Psychopathen ein Defekt im paralimbischen System. Dieses hufeisenförmige Gebilde tief im Gehirn färbt unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen emotional und legt somit die Grundlage für Empathie, ist aber auch für andere Aufgaben wie Impulskontrolle und moralische Entscheidungen zuständig. Bei Psychopathen ist dieses System weniger aktiv als bei anderen Menschen. Andere Forscher machen „Krieger-Gene“ für gewalttätiges Verhalten verantwortlich, die in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen.
Die Richter, die Tabery und seine Kollegen befragten, sahen solche Begründungen nicht als Beweis, dass Donahues freier Wille beeinträchtigt und er nur eingeschränkt schuldfähig sei. Trotzdem reduzierten sie das Strafmaß teilweise etwas und begründeten ihre Urteile anders, wenn sie biologische Erklärungen für das Verhalten hörten. Ein Richter schrieb: „Er traf eine bewusste Entscheidung, diese Tat zu begehen. Vielleicht kann er Gut und Böse schlechter unterscheiden. Ob ihn dadurch moralisch gesehen weniger Schuld trifft, ist eher eine akademische Überlegung.“
Jana Schlütter