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Schau mir in die Gene. Informationen aus medizinischen Datenbanken und über das Erbgut von Tumoren, wie sie mit Genchips (hier am Berliner Max-Planck-Institut für Genetik) gewonnen werden, sollen helfen, die beste Therapie für jeden Patienten zu finden.
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Mit „Big Data“-Medizin gegen Krebs: Pille per Mausklick

Computerprogramme sollen Informationen über den Patienten und mögliche Wirkstoffe verknüpfen und den Arzt bei der Therapieentscheidung unterstützen.

Es ist ein modisches Schlagwort, „Big Data“, das heute vielen Menschen Angst macht. Die Möglichkeiten zum Erheben, Speichern und Verknüpfen von digitalen Daten wachsen und erlauben Rückschlüsse über den Gesundheitszustand von Bürgern. Dem Deutschen Ethikrat war der rasche Zuwachs solcher Informationen kürzlich eine eigene Jahrestagung wert. Datenschützer warnten davor, dass etwa Versicherungen und Arbeitgeber sie zu Ungunsten der betreffenden Person verwenden könnten.

Zugleich wurde aber auch deutlich: Für Menschen, die eine schwer zu behandelnde Krankheit haben, könnten die Daten lebensrettend sein – wenn Ärzte das gesamte verfügbare Wissen der Menschheit zu ihrem konkreten Problem mobilisieren können, um ihnen optimal helfen zu können.

Welche Pille passt zum Patienten?

Wie das funktionieren könnte, wurde auf der Tagung „Big Data in der Medizin“ am Hasso Plattner Institut (HPI) für Softwaresystemtechnik in Potsdam diskutiert. So soll der „Drug Response Analyzer“ Ärzten helfen, innerhalb von Minuten aus großen Datenbanken diejenige Chemotherapie auszuwählen, die bei ihrem individuellen Patienten die größte Chance hat, anzuschlagen. Das System, entwickelt vom Mathematiker, Computerwissenschaftler und HPI-Direktor Christoph Meinel und dem Leiter des HPI-Programms „E-Health“, Matthieu Schapranow, ist bereits im Einsatz. Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Medizinischen Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité sucht der Computer nach passenden Behandlungsoptionen für Patienten, die wegen Tumorerkrankungen im Bereich der Mundhöhle, des Rachens, des Kehlkopfs, der Nase und des Halses eine Chemotherapie brauchen. Dafür kommen verschiedene Substanzen und Kombinationen von Zellgiften infrage, denn in den letzten Jahren haben sich die Therapieoptionen um Antikörper erweitert, die gezielt in Signalwege der Zellen eingreifen. Doch bei wem verspricht welches Mittel den meisten Erfolg?

Wenn Onkologen darüber bisher beraten, kommen die Anhaltspunkte aus verschiedenen Quellen, etwa aus der individuellen Krankengeschichte des Betroffenen oder genetischen Merkmalen des Tumors. Die Untersuchungs- und Testergebnisse des einzelnen Patienten werden dafür mit Ergebnissen internationaler Studien und mit Therapieplänen aus Leitlinien verknüpft. Mit ihrer „Höchstgeschwindigkeitsdatenbank“ wollen die HPI-Forscher diesen Prozess entscheidend beschleunigen. Sie enthält detaillierte Informationen aus verschiedenen „Datentöpfen“ – zu Genen und Proteinen des Tumors und zu Signalwegen der Zellen, aber auch zu seiner Reaktion auf die verschiedenen Medikamente. Um erste Informationen darüber zu bekommen, werden menschliche Tumorzellen in spezielle Mäuse verpflanzt und dann testweise mit verschiedenen Chemotherapien behandelt.

Daten effektiver vernetzen

Die so gewonnenen Daten, aber auch Informationen über Therapieentscheidungen und Erfolg der Behandlung von rund 40 Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren, sind inzwischen im System gespeichert. Das sind noch nicht viele, aber über die wenigen gibt es dafür umfassende Informationen. Klassische Großdatensammlungen sind in der Medizin bisher die bevölkerungsbezogenen Studien. „Die Epidemiologie liefert immer Big Data“, sagt der Arzt und Public-Health-Experte Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin. In den neuen Technologien sieht er die Chance, sie noch effektiver zu vernetzen.

Dem Ziel, verfügbares Wissen zusammenzuführen, dienen prinzipiell auch Krebsregister und Krebsberichte. Sie sind wertvoll, „doch sie hinken Jahre hinterher“, gibt Schapranow zu bedenken. In die „Real Time“-Datenbank des HPI werden zudem fortlaufend alle verfügbaren wissenschaftlichen Publikationen zum Thema aufgenommen.

Auch wenn das mathematische Modell, das anschließend zur Bewertung der Daten eingesetzt wird, kaum jemals eine hundertprozentige Übereinstimmung mit früheren Patienten ergibt, kann es einen großen Beitrag zur Sicherheit der Prognose liefern: Es gibt den Ärzten im Idealfall mehr Rückhalt bei ihrer Entscheidung für ein bestimmtes Medikament.

Drei von vier Chemotherapien wirken nicht

Zwar kann auch der „Drug Response Analyzer“ keine Sicherheit, sondern nur eine verbesserte Wahrscheinlichkeit für den Erfolg geben. Der jedoch ist bitter nötig: Im Jahr 2012 bilanzierte die Amerikanische Krebsgesellschaft, dass drei von vier Chemotherapien bei Krebs nicht wie erwartet wirken.

Mathematiker Meinel hofft, dass die neuen Möglichkeiten zur schnellen Verknüpfung riesiger Datenmengen über die Therapie hinaus auch die Krebsforschung beflügeln werden. „Wir versetzen Krebsforscher in die Lage, Zusammenhänge zwischen Varianten in den Erbanlagen von Patienten und der Wirkung von Medikamenten bei diesen zu ermitteln.“ Neu entdeckte Biomarker, die Hinweise darauf geben könnten, ob eine Substanz beim einzelnen Krebskranken Erfolgschancen hat, müssen anschließend allerdings erst einmal in klinischen Studien auf ihre Nützlichkeit abgeklopft werden, ehe sie alltagstauglich sind: Mathematik kann Medizin nicht ersetzen. Befruchten können sich beide Disziplinen aber offensichtlich schon: „Wir mussten uns ein Grundgerüst an medizinischem Verständnis aneignen, sonst könnten wir uns ja nicht mit den Ärzten unterhalten“, sagt Schapranow.

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