Arzneimittel mit Sensor und Sender: Petzende Pillen
Patienten können jetzt eine digitale Pille schlucken, die den Arzt per Smartphone informiert, ob sie ihre Arzneien einnehmen.
Mal angenommen, man könnte einen Computerchip schlucken. Das Ding wäre so klein, dass es sich in Pillen einbetten ließe, wie sie viele Millionen Patienten täglich einnehmen müssen. Angenommen der Chip würde durch die Magensäure aktiviert und könnte Signale aus dem Körper an Smartphones oder Tablets senden, ob der Patient seine Medikamente wie angeordnet einnimmt. Nicht nur dem Kranken selbst, auch seinem Arzt, vielleicht auch besorgten Verwandten oder Freunden könnte Zugriff auf diese Informationen gewährt werden, damit sie helfen können, falls die mitunter lebenswichtigen Pillen vergessen werden.
Zu viele Pillen werden gar nicht geschluckt
Seit vergangener Woche ist das keine ferne Zukunftsvision mehr. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA hat die erste „digitale Pille“ zugelassen. Nun können Ärzte live mitverfolgen, ob ihre Patienten ihre verordneten Medikamente auch wirklich schlucken. Das habe das Potenzial, die öffentliche Gesundheit zu verbessern, sagte Ameet Sarpatwari vom Brigham and Women's Hospital der Harvard Universität in Cambridge, Massachusetts, der New York Times.
Tatsächlich ist mangelnde Therapietreue ein globales Problem. Die Weltgesundheitsorganisation schätzte schon 2003, dass etwa die Hälfte aller Patienten weltweit vergessen oder sich weigern, ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen. Vor allem chronisch Kranke, die über Jahre verschiedene Arzneien schlucken müssen, halten sich nicht immer an die Verschreibungspläne. Die Folge ist, dass etwa Bluthochdruckpatienten unnötige Schlaganfälle erleiden, Diabetikern Amputationen drohen und bei Transplantierten das verpflanzte Organ vom Immunsystem abgestoßen wird. Das verursacht nicht nur persönliches Leid, dem Gesundheitssystem entstehen auch hohe Kosten.
Das Marktforschungsinstitut IMS Health kam 2013 auf 500 Milliarden unnötig ausgegebene US-Dollar, wenn Patienten vergessen oder sich weigern, den Anordnungen des Arztes zu folgen. In Deutschland werden deshalb 13 Milliarden Euro jährlich vergeudet, obwohl sich Krankenkassen und Ärzte schon lange bemühen, ihre Patienten mit speziellen Schulungen und Informationen zu größerer Zuverlässigkeit zu erziehen. Der Erfolg allerdings ist mäßig.
Datenflut aus dem Darm
Nun also sollen es die digitalen oder „Smart Pills“ richten. So nennt man die noch junge Mixtur aus digitaler Sensor- und Sendetechnik einerseits und Arzneimitteln andererseits. Den Anfang machten vor etwas mehr als zehn Jahren eine schluckbare Kamera, die Bilder aus dem Darm sendete. Nun aber können die smarten Pillen mit speziellen Sensoren sowohl Körperfunktionen messen als auch Wirkstoffe abgeben oder Gewebeproben aus dem Innersten des Körpers sammeln und gleichzeitig die gemessenen Daten an Smartphones, Tablets oder Computer übermitteln.
Bis lang ist diese Zukunftsvision der Medizin allerdings nur für einen sehr kleinen Teil der Menschheit Behandlungsrealität. Die jetzt zugelassene digitale Pille steckt eben nicht in einem der millionenfach verschriebenen Pillen, die den Blutdruck senken, sondern in dem Antipsychotikum Abilify des japanischen Arzneimittelherstellers Otsaka. Mit dem darin enthaltenen Wirkstoff Aripiprazol, der die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin reguliert, behandeln Ärzte schon seit Langem Schizophrenieanfälle und schwere Depressionen.
Nanopille, die nach Krankheitssignalen fahndet
Den smarten Chip, den Otsaka jetzt in die Abilify-Pille integriert hat, war schon schon einmal 2010 in Europa und 2012 in den USA für marktreif erklärt worden – nur war er damals noch nicht in einer Tablette verpackt. Entwickelt wurde die digitale Pille von der Firma Proteus Digital Health in Redwood City, mitten im Silicon Valley, wo auch Tech-Firmen wie Apple und Google die Gesundheit längst als Milliardenmarkt entdeckt haben. Auch Google plant, miniaturisierte Sensoren durch den Körper zu schicken. Das konzerneigene Forschungslabor Google X arbeitet an einer Nanopille, die im Blutkreislauf nach Signalstoffen für Krankheiten Ausschau hält. Die Kapsel soll mit winzig kleinen magnetischen Nanopartikeln gefüllt sein, die molekulare Sonden tragen. Sie erkennen bestimmte Moleküle im Körper, die typisch für eine Erkrankung sind. Ein magnetisches Diagnostikarmband sammelt die Partikel dann ein und liest die Informationen aus.
Mit viel Geld unterstützt Google auch das Start-up Rani Therapeutics in San José, das eine Roboter-Pille entwickelt, in der winzige, mit Wirkstoff gefüllte Spritzen in eine Kapsel gepackt werden. Sie blasen sich im Darm ballonartig auf und spritzen so ihren Wirkstoff in die Darmwand. Der Rest der Kapsel wird wieder ausgeschieden. Anders als bei Proteus Digital Health steht hier allerdings nicht die Therapiekontrolle im Vordergrund. „Die Technik dient als alternatives Transportvehikel für große Moleküle wie Proteine, Peptide oder Antikörper, die sonst gespritzt oder per Infusion verabreicht werden müssen“, sagt Mir Imran, der Geschäftsführer von Rani. Etwa um Insulinspritzen oder Injektionen von Rheumamitteln zu ersetzen. Klinische Studien stehen aber noch aus.
Roboterpille, die Gewebeproben nimmt
Die schärfste Konkurrenz für Proteus’ smarte Pille aber hätte aus den Niederlanden und Deutschland kommen können. Ein kleines Spin-off mit Namen Medimetrics erfand parallel zu den US-Amerikanern die „Intellicap“, eine Kapsel ähnlich der von Proteus. Medimetrics gehörte damals zum Elektronikkonzern Philips, der weltweit Röntgengeräte und Kernspintomografen vertreibt. Doch Philipps stieg aus, „weil man damals nicht in den Körper gehen wollte“, sagt Jörg Ronde von der Unternehmungsberatung Bachert und Partner, derzeit Medimetrics Geschäftsführer. Nun gehören die Patente von Medimetrics dem Zukunftsfonds Heilbronn. Um ihre Chancen zu verbessern, haben die Ingenieure die Kapsel nun so umgebaut, dass sie nicht nur Wirkstoffe in den Körper transportieren, sondern auch Gewebeproben aus dem Darm entnehmen kann. „Das eröffnet uns ganz neue Märkte“, sagt Ronde. Produzenten von Joghurts oder Nahrungsergänzungsmitteln könnten mit diesen Digital-Pillen den Nutzen ihrer Produkte beweisen. Die Gewebeproben aus dem Darm könnten zeigen, ob und wie sich die Darmflora nach einer Joghurt-Mahlzeit verändert. Langfristig hofft Ronde aber, die smarten Pillen im Gesundheitswesen einsetzen und Informationen über die Darmflora liefern oder dabei helfen zu können, Krebs früher zu erkennen.
Schon bevor das Zeitalter der digitalen Pillen so recht begonnen hat, stellt sich allerdings die Frage: Was passiert mit den Daten? Denn auch der Proteus-Chip kann mehr als nur die Einnahme dokumentieren. In einer Studie mit Patienten mit unkontrollierbar hohem Blutdruck und Diabetes registrierte der verschluckte Minicomputer nicht nur die Menge der Arznei im Körper, sondern zählte auch die Schritte, überwachte den Schlaf und den Blutdruck der Patienten. Die Rückmeldung dieser Informationen an die Patienten sorgte tatsächlich dafür, dass ihr Blutdruck sank. Ob dieser Effekt auch langfristig anhält, ist allerdings unklar. Die Studie dauerte nur zwölf Wochen und nur 96 Patienten waren beteiligt. Fitness- und Gesundheitsprogramme haben oft nur anfangs Erfolg, bis eine Gewöhnung oder Ermüdung einsetzt.
Ein Chip allein kann das Vertrauen in eine Therapie nicht verbessern
Während die positive Wirkung für den Patienten also womöglich nur von kurzer Dauer ist, bleibt das Risiko der Überwachung, des buchstäblich gläsernen Patienten, bestehen. Die mächtigen Krankenversicherungen in den USA könnten die Daten nutzen, um Druck auf ihre Versicherten auszuüben, wenn sie feststellen, dass sie sich nicht an die Verordnungen des Arztes oder Ernährungspläne halten.
So sehr die Technik hilfreich sein könnte – sollte sie missbraucht werden, könne sie das Misstrauen gegenüber Ärzten und Therapien erheblich erhöhen, warnt Harvard-Arzt Sarpatwari.
Isabella Heuser-Collier, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, hält es ohnehin für keine gute Idee, die digitale Pille ausgerechnet erstmals bei schizophrenen Patienten einzusetzen. „Die fühlen sich mitunter sowieso schon überwacht und kontrolliert“, sagt Heuser-Collier. „Damit verstärkt man diesen Eindruck noch.“ Und allein per Chip lasse sich die Therapietreue ohnehin nicht verbessern. „Man muss mit dem Patienten arbeiten und fragen, was ihn daran hindert, seine Mittel regelmäßig einzunehmen“, sagt Heuser-Collier. „Ein Sensor allein kann das Verhalten nicht ändern.“
Edda Grabar