zum Hauptinhalt
223617_0_79fc7d8d
© Imago

Polynesien: Per Schnellboot durch die Südsee

Sprachforscher und Genetiker lüften das Geheimnis, wie die Polynesier die Pazifikinseln besiedelten.

Mit Kanus und Katamaranen aus Holz und Kokosfasern besiedelten die Polynesier die entlegendsten Inseln der Erde. Für die Wissenschaft ist das eine Art Testfall für die Anpassungsfähigkeit des Menschen. Wie schnell konnte er sich auf ungewöhnliche Herausforderungen einstellen? Wie hielten die Bewohner der Inseln Kontakt? Wenn wir die Geschichte der Polynesier verstehen, so hoffen Forscher, lernen wir zugleich etwas über uns Menschen als Natur- und Kulturwesen. Heute arbeiten deshalb Archäologen und Linguisten, Molekularbiologen und Populationsgenetiker gemeinsam an der Beantwortung dieser Fragen.

Vor etwa 150000 Jahren entwickelte sich der anatomisch moderne Mensch in Afrika. Weil die Bevölkerung dort vermutlich rasant wuchs, kam es vor 60000 Jahren zu einem einzigartigen Exodus. Homo sapiens brach in kleinen Gruppen zu buchstäblich neuen Ufern auf. Innerhalb von nur wenigen Zehntausend Jahren besiedelte er den gesamten Globus. Nach Nordafrika und dem Nahen Osten war der eisfreie Süden Europas die dritte Station. Nachdem er Zentral- und Südasien durchwandert hatte, erreichte Homo sapiens Australien und später Südamerika. Und vor 33 000 Jahren besiedelten die Vorfahren der heutigen Melanesier Neuguinea und die umliegenden Inseln. Dort am Westrand des Pazifiks angekommen, standen die Menschen vor der Herausforderung, über die unermesslichen Weiten dieses Ozeans zu navigieren. Nach allem was wir heute wissen, dauerte auch diese jüngste Besiedlungswelle nur wenige tausend Jahre: Vor 6000 bis vor 3600 Jahren eroberten die frühen Seefahrer mit Auslegerkanus und hochseetüchtigen Katamaranen den gesamten Südseeraum. Wie ihnen das gelang, ist noch lange nicht geklärt.

Zum einen ist nicht entschieden, ob die Vorfahren der Polynesier einst als Jäger und Sammler von den Inseln Indonesiens und Neuguineas aus aufbrachen, oder als Ackerbauern aus dem südlichen China beziehungsweise Taiwan stammen. Zum anderen ist umstritten, wie schnell die Inselwelt Melanesiens, Polynesiens und Ozeaniens besiedelt wurde.

Viele Anthropologen und Archäologen glauben, dass sich die Vorfahren der Polynesier von Taiwan aus schnell in den pazifischen Raum ausgebreiteten. Nach dieser „express train“-Theorie wären, weitgehend unter Umgehung Melanesiens, auch die Eilande im zentralen und östlichen Pazifik schnell erreicht worden.

Andere Forscher mögen nicht auf diese Schnellzugtheorie aufspringen. Sie gehen von einer „slow boat“-Besiedlung aus. Demnach wäre es bei der Ostmigration vom asiatischen Festland aus zuerst zu einer genetischen Vermischung der älteren ortansässigen Melanesier mit den durchwandernden Vorfahren der Polynesier gekommen – und neben vielen Mischehen auch zum Austausch von Kultur und Sprache.

Beide Hypothesen lassen sich mit Studien untermauern. So ergaben Analysen der Erbsubstanz in der weiblichen Linie, dass es nur selten zur Fortpflanzung zwischen Melanesiern und Polynesiern kam. Dagegen legen Untersuchungen an den männlichen Y-Chromosomen nahe, dass sich beide Bevölkerungsgruppen intensiv vermischt haben. Genetiker mit einer Vorliebe für die Schnellzugtheorie haben vor Jahren Schützenhilfe von Sprachforschern erhalten. Deren im Fachblatt „Nature“ (Band 405, Seite 1052) veröffentlichte Studie zeigte, dass die Besiedlung Ozeaniens in drei Schritten aus dem westlichen in den zentral- und fernozeanischen Raum erfolgte. Dabei standen Sprachen, die heute in Taiwan gesprochen werden, an der Wurzel des Stammbaums, der sich auch genetisch stützen und auf weniger als 5000 Jahre datieren ließ. Wer also saß in den ersten Auslegerkanus?

Jetzt hat ein Team um Jonathan Friedlaender von der Temple-Universität in Philadelphia Hinweise im Erbgut des Zellkerns gefunden, die einmal mehr für die Schnellzugtheorie sprechen. Der Vergleich von 890 genetischen Abschnitten von 952 Menschen aus 41 Bevölkerungsgruppen lieferte zwei wichtige Erkenntnisse („Science“, Band 319, Seite 270): Zum einen erwiesen sich Polynesier als näher verwandt mit der Urbevölkerung auf Taiwan als mit den Melanesiern. Zum anderen hat sich das Erbgut von Melanesiern und Polynesiern kaum vermischt. Das Schnellboot hinaus in den Pazifik dürfte also kaum einmal Halt in Melanesien gemacht haben. Selbst bei jenen Melanesiern, deren Sprachen denen der Polynesier ähneln, liegen weniger als 20 Prozent genetische Übereinstimmung vor. Als die Gruppen aufeinandertrafen, kam es offenbar weit seltener zu Mischehen als zum Austausch von Ideen und Sprachen, meint Friedlaender.

Dieser kulturellen Weiterentwicklung ging auch eine Studie an den Auslegerbooten der Polynesier nach. Deborah Rogers und Paul Ehrlich von der Stanford-Universität in Kalifornien berichteten im Fachblatt „PNAS“ (Band 105, Seite 3416), dass sich kulturelle Errungenschaften wie Bau und Verzierung der Kanus auf ähnliche Weise wandelten, wie es Biologen für natürliche Ausleseprozesse und dem Verlauf der Evolution rekonstruiert haben. Danach folgen der funktionelle Bau und das symbolische Design der Kanus natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Auch sie lassen auf ein klares Besiedlungsmuster vor 2500 bis 3000 Jahren schließen, als der Fidschi-Archipel zum Startpunkt für die Erschließung der östlichen Gebiete Ozeaniens durch die Polynesier wurde.

Offenbar waren die ersten Polynesier gleichsam mit Sturmbooten unterwegs. Ihre Kanus trugen noch bis zum Erscheinen von James Cook und den modernen Seefahrern die Spuren dieser letzten maritimen Etappe der außergewöhnlichen Expansion des Menschen.

Matthias Glaubrecht

Zur Startseite