Medizin: Patienten kommen zu oft unters Messer
Vom Herz bis zur Hüfte: Viele Operationen sind nicht zwingend oder lassen sich zumindest hinauszögern. Jetzt erforschen Chirurgen, welche Eingriffe nützlich und welche überflüssig sind.
Herr A. war immer sportlich gewesen. Er joggte morgens vorm Frühstück durch den Park, schon seit Jahrzehnten, als das Joggen noch Waldlauf hieß. Aber jetzt tat ihm schon nach ein paar hundert Metern das linke Knie weh. Immer öfter musste er seine Joggingrunde abbrechen und nach Hause hinken. Und dann zum Orthopäden.
„Ich werde alt, Herr Doktor. Mein Kniegelenk ist wohl verschlissen. Was kann man da tun?“ Der Arzt gab ihm einen Termin zur Gelenkspiegelung, Arthroskopie, in einer Klinik, wo er auch selbst operierte. „Wenn wir das Kniegelenk spülen und den Knorpel glätten, können Sie wahrscheinlich noch lange beschwerdefrei laufen. Das erspart Ihnen ein Knie-Implantat“, sagte der Orthopäde.
Aber Herr A. humpelte nach der Gelenkspiegelung schlimmer und schmerzhafter als zuvor. Und das künstliche Knie blieb ihm keineswegs erspart.
So geht es vielen Knieleidenden. In einem Faktencheck der Bertelsmann-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie zum Thema Knie heißt es, dass in Gegenden, in denen viele Kniespiegelungen stattfinden (das kann bis zu 65-mal mehr sein als in anderen Wohngegenden), auch viele Kniegelenke ersetzt werden.
Für Hartwig Bauer, früherer Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, sind die selten notwendigen Kniespiegelungen und Knorpelglättungen eines von vielen Beispielen für Operationen mit fragwürdigem Nutzen. Tatsächlich mahnen viele Chirurgen zur Zurückhaltung, wenn sie sich verantwortlich für ihre Patienten und für ihr Fach fühlen. Sie weisen immer wieder darauf hin, wie dürftig oft der Nachweis des dauerhaften Nutzens eines chirurgischen Eingriffs für die Patienten ist, während das Risiko stets vorhanden ist.
Zum Beispiel ein künstliches Hüftgelenk. Es lässt sich oft vermeiden oder doch hinauszögern. Selbst die Orthopäden fänden das und verwiesen darauf, dass man selbst viel dafür tun könne, sagte Joachim Jähne, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, dieses Jahr auf dem Jahreskongress der Gesellschaft in Berlin. Abnehmen, Physiotherapie und Schmerzmittel helfen beim Vermeiden oder zumindest beim Aufschub einer Operation. Ebenso muss nicht jeder Leistenbruch operiert werden, meint Jähne. „Wait and see – das geht oft viele Jahre lang oder sogar auf Dauer.“
In Fachkreisen wird auch die Häufigkeit vieler anderer Eingriffe infrage gestellt, etwa am Herzen, an der Schilddrüse oder am Darm. Im Alter sind Ausstülpungen der Dickdarmwand, Divertikel genannt, sehr häufig. 60 Prozent der Achtzigjährigen haben sie. Divertikel können sich entzünden, aber diese „Divertikulitis“ braucht nur bei bestimmten Komplikationen operiert zu werden, wie Studien ergaben und Leitlinien empfehlen. Hierzulande finden jedoch zwei Drittel aller Divertikulitis-Eingriffe in unkomplizierten Fällen statt, in den Niederlanden sind es nur zehn Prozent. Es bestehe „der Verdacht, dass viel zu vielen dieser Patienten mit dem unberechtigten Hinweis auf das Risiko eines künstlichen Darmausgangs eine Operation nahegelegt wird“, sagt Stefan Post, Direktor der chirurgischen Uniklinik Mannheim.
Unnötige Operationen seien ein viel häufigeres Problem als chirurgische Fehler, meint Post. Die wahre Kunst des Chirurgen liege nicht in der technischen Ausführung eines Eingriffs, sondern in der Indikation; das heißt, in der Beantwortung der Frage, ob für den betreffenden Patienten eine bestimmte Operation wahrscheinlich von Nutzen ist. Vor allem dann, wenn es auch aussichtsreiche Behandlungen ohne OP gibt, muss diese Frage sorgfältig erwogen und mit dem Patienten besprochen werden.
Seit Jahren rufen wissenschaftlich und zugleich ökonomisch denkende Chirurgen dazu auf, in klinischen Studien zu ermitteln, welche Operationen wann und bei wem sinnvoll ist. In der Arzneimitteltherapie sind solche Studien mit Patienten seit langem Pflicht. Ausgelöst durch die Contergan-Katastrophe wurde 1976 das erste Arzneimittelgesetz verabschiedet. Danach werden Medikamente nur dann zugelassen, wenn ihre Wirksamkeit in klinischen Studien nachgewiesen wurde. Für chirurgische Behandlungen gilt eine solche Verpflichtung nicht. Dennoch haben die Chirurgen mit der systematischen Erforschung der Wirksamkeit ihrer Eingriffe mutig begonnen. Zuerst in angelsächsischen Ländern, mit großer Verzögerung auch in Deutschland.
Wie notwendig es ist, zeigen vor allem Placebo-Versuche, die heute kaum eine Ethikkommission mehr genehmigen würde. Neue Medikamente werden, wenn es noch keine bewährten Mittel zum Vergleich gibt, gegen Placebo geprüft, also gegen Pillen ohne spezifischen Wirkstoff. Neue chirurgische Eingriffe verglich man, was viel schwieriger und riskanter ist, mit Schein-Operationen.
Sie zeigten, dass es offenbar nicht ausreicht, die operative mit der konservativen Behandlung eines Leidens zu vergleichen. Das ganze Drum und Dran der chirurgischen Prozedur scheint eine wichtige Rolle zu spielen, unabhängig von der Art des Eingriffs. Denn, so stellte der Psychosomatiker Thure von Uexküll einmal fest: „Während der Hausarzt und der Internist bei ihren Einwirkungen auf den Patienten meist auf das Verschreiben von Medikamenten beschränkt sind, steht dem Chirurgen ein unerhört eindrucksvolles Ritual zur Verfügung. Es besteht aus Operationsvorbereitung, Narkose, Operation und Aufwachen auf der Intensivstation.“
Eine Operation gilt als potentestes Placebo überhaupt. Die Chirurgen packen jetzt auch dieses heiße Eisen an. An einer systematischen Übersicht über Studien, die echte mit Schein-Operationen vergleichen, arbeitet zur Zeit eine chirurgische Forschergruppe. Auch die echten Eingriffe haben außer ihrer spezifischen Wirksamkeit einen Placebo-Effekt, wie alle Behandlungen.
Viele früher gängige chirurgische Eingriffe erwiesen sich später als unnötig, zum Beispiel routinemäßige Beschneidungen aus vermeintlich medizinischen Gründen oder routinemäßige Mandeloperationen. Wie werden bestimmte, heute übliche Operationen morgen betrachtet werden, etwa die modernen Verfahren der Herzchirurgie? Ist ihr Nutzen für die Kranken groß genug, um die Risiken zu übersteigen? Ist eine Operation also tatsächlich angezeigt?
„Für jegliche Diagnostik oder Therapie sollte vor der Anwendung am Menschen der eindeutige Beweis erbracht werden, dass ihre Anwendung für den betroffenen Patienten einen Nutzen hat und dass dieser Nutzen potenzielle Risiken bei Weitem übersteigt“, forderte Jochen Cremer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie, beim diesjährigen Chirurgenkongress in Berlin.
Die meisten chirurgischen Verfahren wurden aber ohne den Nachweis eines günstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses eingeführt und breit angewandt. Selbst die heute standardmäßige Bypass-Operation zur Überbrückung verengter oder verstopfter Herzkranzgefäße Angina- pectoris-Kranker gehört dazu. Die Studie, über die Cremer auf dem Kongress berichtete, verglich immerhin den fast schon klassischen Bypass mit einer neueren Methode, der Aufweitung des verengten Blutgefäßes, dass dann mit einem Metallröhrchen, dem Stent, offen gehalten werden soll. Die Patienten hatten entweder einen verengten Hauptstamm der linken Koronararterie oder aber alle drei Koronargefäße waren befallen.
Diese „Syntax“-Studie war ein seltenes Langzeitprojekt. Mehrere Kliniken beteiligten sich. Nach fünf Jahren erwies die Bypass-Operation sich für 71 Prozent der Patienten als beste Wahl, für 22 Prozent wären beide Techniken infrage gekommen, für sieben Prozent eher die Aufdehnung mit nachfolgender Stent-Implantation. So etwas sollten auch potenzielle Chirurgiepatienten wissen.
Operateure und Operierte wurden bisher hauptsächlich durch Erfahrung klug. Nur ein Viertel aller chirurgischen Verfahren stützt sich auf wissenschaftliche Studien. Weniger als fünf Prozent dieser Studien sind Methodenvergleiche, und Langzeituntersuchungen sind die große Ausnahme, aber dringend nötig. Dabei will man herausfinden, wie es den Operierten nicht nur kurz nach dem Eingriff, sondern auf Dauer im Alltagsleben geht.
Auch Hans-Joachim Meyer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, spricht sich für mehr patientennahe Studien aus, statt einer Grundlagenforschung, die oft zu nichts führe, was den Patienten nützen könnte.
Chirurgische Forschung mit Patienten ist allerdings besonders schwierig. Wissenschaftliche Vergleiche konventioneller Verfahren mit minimal-invasiver Technik (Knopfloch-Chirurgie) sind zum Beispiel laut Meyer gar nicht machbar, weil die Patienten unbedingt und unbesehen die neuen unerprobten Methoden wollten. Und manche Krankheiten sind nach Schweregrad und Stadium so unterschiedlich, dass vergleichbare Patientengruppen schwer zu bilden sind, die in einer Studie nach verschiedenen Methoden behandelt werden sollen.
Beispiel Refluxkrankheit: Das geht vom harmlosen Sodbrennen bis zu einer schweren Entzündung der Speiseröhre, und kann ganz verschiedene Ursachen haben. Sogar psychische Einflüsse spielen manchmal eine Rolle. Bei dieser Krankheit kann man nicht einfach fragen, ob eine chirurgische oder eine konservative Behandlung prinzipiell besser ist, sagte Karl-Hermann Fuchs (Frankfurt/M.) beim Berliner Kongress. Zu entscheiden ist vielmehr, welcher Patient von welcher Therapie mehr profitiert. Eine Operation komme nur für vier bis höchstens sieben Prozent infrage. Dass verschiedene Studien zu verschiedenen Ergebnissen führten, liege an der schlechten Auswahl der zu behandelnden Kranken. Das ist nach Fuchs darauf zurückzuführen, dass eine gründliche Voruntersuchung nicht bezahlt wird. Ein wichtiger Hinweis, denn die meisten Patienten ahnen gar nicht, wie stark nicht medizinische Einflüsse die Wahl der Behandlung mitbestimmen können.
Rosemarie Stein
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