Der Mann aus dem Eis: Ötzi packt aus
Vor 25 Jahren wurde die Gletschermumie entdeckt. Dank ihr haben Forscher viel Neues über die Steinzeit erfahren. Der Mann aus dem Eis war außergewöhnlich fit.
Der Schütze muss am Berghang ein Stück unterhalb und hinter dem gut gekleideten Mann gestanden haben. Sein Schuss traf das Opfer jedenfalls schräg von unten in die Schulter, verletzte eine Schlagader und der Mann verblutete. Vielleicht stürzte er nach dem verhängnisvollen Schuss auch, schlug mit dem Kopf auf einen Felsen und starb an einem Schädelbruch? Oder der Schütze hat sein Opfer nach dem Treffer erschlagen? Exakt rekonstruieren konnten die Ermittler den Tathergang noch nicht, vielleicht werden wesentliche Punkte wie die Frage, wer eigentlich geschossen hat, sogar nie aufgeklärt.
Verwunderlich wäre das nicht. Schließlich wurden die Ermittlungen erst 5300 Jahre nach der Tat aufgenommen. Zwischenzeitlich lag das Opfer gut gekühlt in einem Gletscher in den Ötztaler Alpen und wurde dort erst am 19. September 1991 zufällig entdeckt. Seither hat die im Deutschen oft „Ötzi“ und im Englischen mitunter „Frozen Fritz“ genannte Gletschermumie einiges über sich und das Leben in den Alpen der Steinzeit verraten.
Schuhe aus Rindsleder und Bärenfell
So kann der Mann damals kaum arm gewesen sein. Seine Jacke war sorgfältig aus braunen und hellen Fellstreifen genäht, die von Schafen und Ziegen stammten. Wobei die Verwandtschaft zumindest der Ziegen noch heute in Mitteleuropa zu finden ist, wie Erbgutanalysen zeigen. Aus vielen kleinen Stücken dieses Ziegenfells waren auch die Beinlinge mit Tiersehnen aufwändig zusammen genäht. Der Schaft seiner Schuhe war aus Rindsleder, die Sohle aus Bärenfell, auch seine Mütze bestand aus diesem Material. Nur wer einen gewissen Wohlstand genoss, konnte sich diese aufwändige Mode leisten.
Und dann ist da noch die Axt mit einem Blatt aus reinem Kupfer. Dieses Metall konnten sich offensichtlich nur reiche Steinzeitmenschen leisten. Das schließt der heute freiberuflich forschende Feuerstein-Spezialist Alexander Binsteiner aus den Hinterlassenschaften der Mondsee-Kultur, die im heutigen Oberösterreich zu Ötzis Zeiten zuhause war. „In der Pfahlbausiedlung von See am Mondsee wurden neben 500 schweren Stein-Äxten gerade einmal zwölf vollständige Flachbeile aus Kupfer gefunden“, erläutert der Forscher, der die Steinwerkzeuge der Gletschermumie untersucht hat. „Kupfer war damals noch sehr selten und entsprechend wertvoll.“ Kurzum: Die Axt muss ein Vermögen wert gewesen sein.
Viel Arsen in den Haaren
Geochemische Untersuchungen des Kupfers verraten auch die Herkunft des Metalls aus dem Mitterberg im heutigen Salzburger Land. In das Blatt des fertigen Beils waren Randleisten geschlagen, die eindeutig auf die Remedello-Kultur südlich des Alpenhauptkammes hindeuten. Das spricht für Handelsbeziehungen, die quer über die Alpen reichten – oder auch auf Raubzüge zwischen Nord und Süd. Dazu passen die sechs Feuersteingeräte, die Ötzi bei sich hatte. Sie stammen alle aus den Lessinischen Bergen nördlich der oberitalienischen Stadt Verona, hat Binsteiner herausgefunden. Genau die gleiche Feuerstein-Variante fanden Archäologen auch in den Pfahlbauten aus dieser Zeit in Oberösterreich, Bayern und der Schweiz. „Bereits in der Steinzeit gab es also enge Wirtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Regionen Europas“, folgert Binsteiner.
Vielleicht war Ötzi ja Händler, der Kupfer aus dem Norden in den Süden holte und sich damit einigen Wohlstand erwarb. Dazu passen die hohen Arsenkonzentrationen in seinen Haaren und im Kupfer vom Mitterberg: Beim Verarbeiten ließ es sich in der Steinzeit kaum vermeiden, dass Arsen aus dem Erz in den Organismus gelangte und später in den Haaren abgelagert wurde. Für diesen Job sprechen auch die Statur und die offensichtlich gute Konstitution, die verschiedene Forscher nach eingehenden Untersuchungen der Gletschermumie dem lebenden Ötzi vor mehr als 5300 Jahren attestieren. Alles deutet darauf hin, dass der Gletschermann es gewohnt war, weite Strecken zurückzulegen und dass er als 45-Jähriger für Steinzeit-Verhältnisse zwar ziemlich alt, aber auch erstaunlich fit war.
Durchtrainierter Körper
„Kerngesund war Ötzi jedoch nicht“, ergänzt Albert Zink, der das Institut für Mumien und den Iceman in der Europäischen Akademie Bozen leitet und damit die wissenschaftliche Verantwortung für die Gletschermumie trägt. So zeigt das 2012 analysierte Erbgut, dass Ötzi eine deutliche Veranlagung für Herz-Kreislauferkrankungen geerbt hatte. Zusammen mit einem ungünstigen Lebensstil wie fettreicher Ernährung und mangelnder Bewegung erhöht diese das Risiko einer „Arterienverkalkung“, die wiederum Herzinfarkte und Schlaganfälle nach sich ziehen kann. „Mit der Computertomographie fanden wir in den Adern der Gletschermumie ebenfalls deutliche Spuren einer solchen Arteriosklerose“, sagt Zink. Dabei hatte Ötzi zumindest nicht an Bewegungsmangel gelitten, zeigt sein durchtrainierter Körper.
Auch andere Zivilisationskrankheiten plagen die Menschen nicht erst seit dem 20. Jahrhundert, sondern zumindest bereits seit der Steinzeit. So wies der Bioinformatiker Thomas Rattei von der Universität Wien in der Gletschermumie Treponema denticola-Bakterien nach. Diese spielen bei Entzündungen des Zahnfleisches eine wichtige Rolle, die den Halt der Zähne schwächen. Und im Magen des Mannes fanden die Forscher Helicobacter pylori-Bakterien. Diese Mikroorganismen können eine ganze Reihe von Krankheiten von Magenschleimhautentzündungen über Magengeschwüre bis hin zu Krebs nach sich ziehen.
Hatte Ötzi Magenschmerzen?
Ob der Steinzeitmann unter diesen vermeintlichen Zivilisationskrankheiten bereits vor 5300 Jahren litt, ließ sich bisher nicht eindeutig klären. Einige Indizien lassen zumindest eine Magenschleimhautentzündung vermuten. „Die Helicobacter pylori-Bakterien in seinem Magen gehören zu einem Stamm, der heute als typischer Auslöser einer solchen Gastritis gilt“, sagt Rattei. Obendrein fanden die Forscher in der Gletschermumie Proteine, mit denen das Immunsystem diesen Erreger attackiert. Vielleicht trug Ötzi ja deshalb in seiner Gürteltasche zwei Birkenporlinge mit sich. Mit diesen Pilzen lindern die Samen in Skandinavien noch heute ihre Magenbeschwerden.