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Unruhige Zeiten. Am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) gibt es tiefe Gräben.
© promo/Christoph Eckelt

Richtungsstreit: Ökonomen warnen vor einseitiger Ausrichtung der HWR Berlin

In einem offenen Brief fordern Wirtschaftswissenschaftler, das vielfältige Profil ihres Faches an der Hochschule für Wirtschaft und Recht zu erhalten.

Berlins Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) streitet seit Monaten über die Ausrichtung ihres wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs (wir berichteten). In einem offenen Brief wenden sich jetzt das Sozialökologische Bündnis der HWR sowie das bundesweite Netzwerk Plurale Ökonomik an den HWR-Präsidenten Andreas Zaby, an den Dekan des Fachbereichs Otto von Campenhausen, an den Staatssekretär für Wissenschaft Steffen Krach und an die Öffentlichkeit:
"Noch ist die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin einzigartig. Insbesondere der wirtschaftswissenschaftliche Fachbereich sticht durch das interdisziplinäre Curriculum, die pluralen Lehrinhalte, ein breites Spektrum an VWL-Theorieschulen und seinen starken Praxisbezug bei vielfältigen Forschungsmöglichkeiten heraus. Seit Jahrzehnten ist die HWR für zahlreiche Studierende und Forschende ein Ort der freien Wissenschaft, von dem wichtige gesellschaftliche Impulse ausgingen.
Doch aktuell wird diese Einzigartigkeit in Lehre und Forschung in Frage gestellt. Es gibt zunehmende Anzeichen einer Depluralisierung des wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs an der HWR, wie sie seit den siebziger Jahren an vielen deutschen Universitäten stattgefunden hat. Das Gleichgewicht zwischen verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Strömungen, welches den progressiven Charakter der HWR begründet hat, droht verloren zu gehen.

Nicht nur die Geschlechterforschung würde geschwächt

Besonders dramatisch ist die Gefährdung mehrerer Professuren und Studiengänge, die die akademische Vielfalt innerhalb der HWR über Jahre sichergestellt haben. In den Bereichen Sozialpolitik und Verteilung, Gender, sowie Nachhaltige Ökonomie wird eine angemessene Neubesetzung der Professuren verhindert. Dies hat Folgen für die ökonomische Lehre. Insgesamt stehen drei international und plural ausgerichtete Studiengänge auf dem Spiel. Auch das interdisziplinäre Harriet Taylor Mill Institut für Ökonomie und Geschlechterforschung würde geschwächt werden.
In den letzten Jahren wurde mehrfach mit fragwürdigen Methoden in den richtungsweisenden Gremien eine inhaltliche Neuausrichtung des Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der HWR erzwungen. Die Entscheidungskultur hat sich von einem eher konsens- und kompromissorientierten Verfahren zum Mehrheitsbeschluss gewandelt, wodurch große Minderheiten zunehmend übergangen werden. Diese Einseitigkeit führte auch bei zahlreichen Personalentscheidungen und der Auswahl von Lehrinhalten zu einer unglücklichen thematischen Verengung.
All dies ist sehr bedauernswert. Angesichts der immer komplexer werdenden Zusammenhänge ist es unerlässlich, diesen mit einer großen Bandbreite an Methoden, Ideen und Theorien zu begegnen. Auch in großen Teilen von Wirtschaft und Politik ist dies inzwischen angekommen. Um die notwendige Anpassung unseres Wirtschaftssystems an globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu begleiten, brauchen gerade Studierende der Wirtschaftswissenschaften Kompetenzen in Fragen der Nachhaltigkeit, sozialer Ungleichheit und internationalen Beziehungen. Das gleiche gilt für die Fähigkeit unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, interdisziplinär zu arbeiten und voneinander abweichende Ergebnisse angemessen zu interpretieren.

Gesamtgesellschaftliche Problematiken schon im Bachelor thematisieren

In diesem Geist fordern wir, dass an der HWR gesamtgesellschaftliche Problematiken auch schon im Bachelorstudium mehr Aufmerksamkeit bekommen und mit den passenden Theorieschulen aus dem gesamten Spektrum der Ökonomik bearbeitet werden. Insbesondere interdisziplinäre Lehrveranstaltungen wie International Economics oder Politische Ökonomie spielen dabei eine besondere Rolle und sollten nicht durch Verschiebung in den Wahlpflichtbereich marginalisiert werden. Quantitative Methoden, qualitative und institutionalistische Analysen, Reflexions- und Argumentationsfähigkeit gehören allesamt zu einer guten wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zudem ist es essentiell, dass in kontroversen Feldern Professor*innen unterrichten, die unterschiedliche methodische Ansätze beherrschen. Nur auf diese Art und Weise können Studierende das nötige Bewusstsein dafür entwickeln, dass es innerhalb der VWL verschiedene Herangehensweisen gibt und lernen, diese produktiv und kritisch miteinander zu vergleichen. Um dies zu erreichen, sollte die Diversität innerhalb des Lehrkörpers gestärkt werden.

Kontroversität thematisieren

Für die Erhaltung eines vielfältigen Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an der HWR bedarf es einer Umgestaltung der Entscheidungsgremien. Studierende sollten ein stärkeres Mitspracherecht bekommen und Meinungen großer Minderheiten stärker berücksichtigt werden. Berufungs- und Forschungskommission sollten paritätisch besetzt und die Transparenz von Entscheidungsprozesse insgesamt erhöht werden.
Wir befürworten den eingeleiteten Moderationsprozess. Er muss jedoch zu einem wirklichen Umdenken führen und dafür sorgen, dass dem Beschluss des Kuratoriums der HWR vom 8. November, in dem explizit eine ,Beibehaltung und Stärkung des erfolgreichen vielfältigen Profils des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften' gefordert wird, echte Maßnahmen folgen.
Die Ausrichtung einer staatlichen Bildungseinrichtung wie der HWR ist eine öffentliche Angelegenheit. Wie die universitäre Lehre aussehen sollte, ist immer auch eine Frage danach, wie die Gesellschaft sich Bildung vorstellt. Der Beutelsbacher Konsens, ein Grundlagendokument der politischen Bildung in Deutschland, lehrt: ,Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.’ Dieser Leitspruch gilt mehr denn je auch für die Wirtschaftswissenschaften, in der seit über zehn Jahren die Rufe nach mehr Pluralität lauter werden. Wir hoffen inständig, dass die Verantwortlichen an der HWR diese zukunftsweisenden Entwicklungen noch rechtzeitig erkennen.“

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