Nobelpreis für Medizin 2014: Nur nicht verloren gehen!
Die Neurowissenschaftler John O’Keefe sowie May-Britt und Edvard Moser erforschen, wie das Gehirn innere Landkarten anlegt und so die Orientierung ermöglicht.
Das kleine Mädchen stand völlig neben sich. Gerade hatte sie noch mit ihren Freunden in einem Vorort von Chicago Blindekuh gespielt. Doch als sie ihr die Augenbinde abnahmen, wusste Sharon Roseman nicht mehr, wo sie war. Die Welt hatte sich für sie um 90 Grad gedreht – und sich damit für die Fünfjährige derart verwirrend verändert, dass sie heulend losrannte und durch nichts und niemanden zu beruhigen war.
Es war wie ein Fluch, den sie nicht mehr loswurde. Immer wieder kam sie in diese Situationen und hielt es trotzdem geheim. Das bildet sie sich ein, hatten Ärzte ihren Eltern gesagt. Erst Jahrzehnte später bekam sie eine Diagnose, erzählte Roseman in der amerikanischen Sendung „Radiolab“. Ein kleiner Teil des Gehirns hatte sich bei ihr nie vollständig entwickelt. Genau jener Teil des Hippocampus, des Tores zur Erinnerung, (und einer knapp daneben) in dem sich Orts- und Gitterzellen befinden. Sie helfen Menschen und anderen Säugetieren dabei, ihren Weg zu finden und nicht verloren zu gehen. Für die Entdeckung dieser spezialisierten Nervenzellen bekommen in diesem Jahr der britische Neurowissenschaftler John O’Keefe sowie das norwegische Forscherpaar May-Britt und Edvard Moser den Nobelpreis für Medizin.
Auch Menschen, bei denen ausgerechnet die Orts- und Gitterzellen durch einen Schlaganfall oder eine Demenz zugrunde gehen, leiden an Orientierungslosigkeit. Das Umherirren gehört oft zu den ersten Symptomen von Alzheimer. Bei Taxifahrern in London dagegen ist der hintere Teil des Hippocampus umso größer, je länger sie diesen Beruf ausüben und je besser sie das Straßennetz kennen. „Diese Zellen sind unser GPS“, sagte Ole Kiehn vom Karolinska Institut in Stockholm während der Pressekonferenz des Nobelpreis-Komitees. „Sie erlauben uns, innere Landkarten anzulegen und uns in einer komplizierten Umwelt zurechtzufinden.“ Eine Fähigkeit, die wir als selbstverständlich hinnehmen.
Die Grundlagen der räumlichen Orientierung schienen verstanden
John O’Keefe vom University College London war der erste, der die inneren Landkarten im Jahr 1971 experimentell nachweisen konnte. Er pflanzte Ratten haarfeine Elektroden in den hinteren Teil des Hippocampus ein, um die Aktivität einzelner Neuronen zu messen, und ließ sie dann in ihrem Käfig umherrennen. Bald war klar: Bestimmte Zellen „feuern“ nur dann, wenn sich das Tier an einem ganz bestimmten Ort befindet. O’Keefe veränderte danach systematisch die Ausstattung der Käfige und zeigte so, dass die Zellen nicht einfach nur einen Seheindruck verarbeiten, sondern grundsätzlich der Orientierung dienen. Sie speichern die so angelegten Landkarten und können sie nach Bedarf verändern.
„Damit schienen die Grundlagen der räumlichen Orientierung verstanden“, sagt Andreas Herz, Neurowissenschaftler am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience München. Doch dann kam das Ehepaar Moser.
„O’Keefe war unser Arbeitsgruppenleiter in London. Bei ihm haben wir gelernt, wie man die Aktivität einzelner Nervenzellen ableitet“, sagte May-Britt Moser kurz nach der Bekanntgabe der Nobelpreise, die Tränen des Glücks waren gerade getrocknet. Als die zwei Wissenschaftler nach Trondheim gingen, wollten sie wissen, woher die Ortszellen ihre Informationen bekamen. Sie wurden auf Zellen im entorhinalen Cortex aufmerksam, eine Hirnstruktur, die extrem schlecht erreichbar ist. Um das Rattenhirn beim Einpflanzen der Elektroden nicht unnötig zu verletzten, platzierten sie die Messfühler etwas näher der Hirnoberfläche. Als die Ratten danach erneut kleine Belohnungen aufsammelten, erlebten die Forscher eine Überraschung. Die Zellen feuerten nicht nur an einem Punkt. Vielmehr waren sie an vielen Orten im Raum aktiv, die zusammen ein reguläres sechseckiges Wabenmuster bildeten. May-Britt und Edvard Moser hatten die Gitterzellen entdeckt – eine Art Koordinatensystem, das immer gleich bleibt.
Zuerst teilen die Nervenzellen den Raum in Waben auf
Wenn man ein Gebäude zum ersten Mal betritt, teilen die Nervenzellen den Raum zunächst in eine Matrix aus Waben auf. Je nach Zelle sind diese Waben unterschiedlich groß und unterschiedlich ausgerichtet. Egal, ob man schnell durch das Zimmer geht oder langsam, ob es hell ist oder dunkel, die jeweilige Zelle feuert immer dann, wenn man die Grenzen ihrer Wabe erreicht hat. Sie ermöglichen es unter anderem, Entfernungen einzuschätzen. Die Ortszellen dagegen füllen das starre Gitter mit Details. Sie registrieren den gedeckten Tisch, das Sofa, das Bücherregal. Sie sind wie kleine Fähnchen auf dem Gitter, die anzeigen: Du bist hier! Wird das Zimmer umgeräumt, werden die Fähnchen durch neue ersetzt. Erst im Zusammenspiel von Orts- und Gitterzellen, aber auch von Zellen, die sich auf Begrenzungen von Dingen oder die Ausrichtung des Kopfes spezialisiert haben, ergibt sich ein Gesamtbild.
Ob bereits alle Puzzleteile vollständig sind, weiß niemand. „Bis vor zehn Jahren haben wir von den Gitterzellen noch nichts geahnt“, sagt der Münchner Hirnforscher Herz. „Wir sind sicher nicht am Ende dieses Weges angelangt.“ Die Erkenntnis, dass Nervenzellen so tief im Gehirn nicht chaotisch feuern, sondern ihre Aktivität eine der schönsten Formen der Natur – eine Wabe – repräsentiert, habe Neurowissenschaftler jedoch beflügelt. „Vielleicht können wir nun verstehen, nach welchen Prinzipien das Gehirn funktioniert!“
May-Britt und Edvard Moser seien würdige Preisträger, „begeisterte Forscher wie aus dem Bilderbuch“, vor Ideen und Energie sprühend. Und noch etwas sei bemerkenswert: Statt ihre Rohdaten zu horten, stellen sie sie kostenfrei allen zur Verfügung, so dass andere Gruppen eigene Hypothesen überprüfen können. „Das ist grandios“, sagt Herz. „Und es entspricht ihrer Persönlichkeit.“
Edvard Moser erfuhr von den Neuigkeiten erst, als er in München aus einem Flugzeug stieg und mit Blumen begrüßt wurde. „Ich verstand gar nichts“, sagte er. Und schob gleich hinterher: „Dieser Nobelpreis gilt nicht nur meiner Frau und mir, sondern vielen anderen, die unsichtbar im Hintergrund arbeiten.“
Jana Schlütter