Kulturgeschichte der Authentizität: Nur das Echte zählt
Ob in der Politik, Kultur, im Sport oder im Privaten: Der Drang nach Authentizität bestimmt die Gesellschaft von heute. Das Phänomen hat eine lange Geschichte und beschäftigt inzwischen auch Historiker.
„Sei authentisch!“ – diese Anforderung an das moderne Selbst ist insbesondere in alternativen Milieus der 1970er- und 1980er-Jahre geprägt worden. Neue Bedeutung bekommt die Forderung nach Authentizität heute in der medialisierten und digitalen Welt. Authentisch sollen Menschen im Privaten sein, im öffentlichen Leben gilt es als Gütesiegel für Politiker, Sportler, Schauspieler, Moderatoren, kurz: für Führungskräfte aller Art. „Ich bin authentisch“, sagt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ebenso von sich wie Fußballnationalspieler Sami Khedira. Authentisch können auch Dialoge in einem Film, die Reise in ein fernes Land und selbst der Geschmack einer Tiefkühlpizza sein.
Manche empfinden es als "Echtheitsterror"
Woher kommt der Drang nach dem Authentischen, den manche längst als „Echtheitsterror“ empfinden? Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der schillernde Authentizitätsbegriff zu einem allseits verwandten Schlagwort und vielbeachteten Phänomen in den Kulturwissenschaften geworden. Inzwischen gewinnt er auch zunehmend an Bedeutung für die zeithistorische Forschung.
Schon im Griechischen, woher das Wort stammt, hatte „authentisch“ eine vielseitige Bedeutung. Dort meinte es zunächst Echtheit im Sinne eines Verbürgten, das „als Original befunden“ wird. Die Wortbedeutung umfasste darüber hinaus Urheberschaft, Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und auch die Treue zu sich selbst. Zudem ist aber im Griechischen mit dem Authentischen auch der „Herr“ und „Gewalthaber“ mit gemeint, was den Begriff eng mit „Autorität“ und der „Autorisierung“ von (kulturellen) Sachverhalten verknüpft.
Schon Rousseau und Herder philosophierten über das authentische Selbst
Der Aufstieg des Authentizitätsbegriffs ist eng an die Geschichte, Konzeption und Ethik des modernen Subjekts gebunden. Schon Rousseau und Herder philosophierten im 18. Jahrhundert über das authentische Selbst. Die Vorstellung, dass jeder Mensch seine eigene originelle Weise hat, bildete sich im Zuge der Aufklärung, der Kultur der Empfindsamkeit und der Frühromantik aus und ist tief in das moderne Bewusstsein eingedrungen. Die Entdeckung der „inneren Stimme“ legte zugleich jedem die Pflicht auf, der eigenen Originalität im Leben gerecht zu werden.
Richtig Fahrt nahm der Authentizitätsdiskurs allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Das „Authentische“ stand seit den 1960er-Jahren in der Hippie-Bewegung, im linksalternativen Milieu und den Neuen Sozialen Bewegungen, aber auch im New Age und der Esoterik hoch im Kurs. Verbunden war damit eine „Revolutionierung des Alltagslebens“, die „Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit und Selbstverwirklichung“ (Dieter Kunzelmann) anstrebte.
Damit verknüpft waren „eine Politik der ersten Person“ und „ganzheitliche und körperbewusste Politikvorstellungen“. Dabei hatte man im linksliberalen Milieu nicht nur das Recht, selbstverwirklicht zu leben, wie der Historiker Sven Reichardt analysiert: Es gebe „geradezu die Pflicht, über sich Rechenschaft abzulegen und die Selbsterkenntnisse anderen mitzuteilen.“ Zum Bekenntnis für ein alternatives Leben gehörte es so auch, vermeintliche persönliche Mängel zu gestehen. Kritiker sahen darin Ich-Bezogenheit und Narzissmus.
Im Zeitalter der New Economy steht die Selbstfindung vor neuen Herausforderungen
Das authentische Selbst ist immer mit der Vorstellung der Identität und Autonomie von Personen, also ihrer Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verbunden. Im Zeitalter der New Economy und des flexiblen Menschen stehen Selbstfindung und die Suche nach dem authentischen Selbst allerdings vor neuen Herausforderungen. Die Arbeitswelt wird flexibler, Leistungsanforderungen wachsen (Stichwort: „lebenslanges Lernen“), gleichzeitig werden Arbeitsverhältnisse unsicherer. Jederzeit aus beruflichen Gründen den Wohnort zu wechseln, scheint eine Notwendigkeit zu werden.
Damit verlieren Wertvorstellungen und Tugenden wie Treue, Verantwortungsbewusstsein und Arbeitsethos an Bedeutung. Wünsche einmal nicht sofort zu befriedigen oder Ziele langfristig zu verfolgen – darauf verzichten viele. Wo früher die Einheit und Identität des Subjekts betont wurde, zeigt sich dieses heute zunehmend fragmentiert. Dennoch bleibt die Forderung an das moderne Subjekt, authentisch zu sein. Das ist immer auch eine Antwort auf zeitkritische Diagnosen, die das Individuum als entfremdet ansehen. Entfremdet etwa durch die Arbeitsverhältnisse in kapitalistischen Produktionsregimen, oder weil sich klassische Milieus auflösen, die Massen- und Informationsgesellschaft immer weiter voran schreitet.
Eine "Authentizitätsindustrie" agiert heute global
Kanalisiert und ausgenutzt wird das von einer regelrechten „Authentizitätsindustrie“, die global agiert. Eines der einleuchtenden Beispiele dafür ist sicherlich der Tourismus. So betonte Dean MacCannell schon zu Beginn der 1970er-Jahre in seinen Studien über den modernen Touristen, dass dessen Wunsch nach dem Blick „hinter die Kulissen“ letztlich eine staged authenticity schaffe.
Geboten wird ihm eine inszenierte Authentizität, etwa Folkloreveranstaltungen statt echter Tradition und Rituale, oder Fischbrötchen, wo schon lange keine Fische mehr ins Netz gehen. Andere Tourismusforscher betonten hingegen, dass das Konzept „authentischer Kulturen“ überholt sei – schließlich erneuern sich Kulturen ständig und werten und ordnen Traditionsbestände immer neu an. Zudem wisse der moderne Tourist vom Spiel mit dem Authentischen.
Das Fernsehen hat sicherlich ebenfalls zum Aufstieg des Authentischen beigetragen, da es einen unvermittelten Blick auf die Realität suggeriert und eine Illusion der Augenzeugenschaft herzustellen vermag. Das Fernsehen ist bei historischen Ereignissen dabei, es befragt am Ort des Geschehens die historischen Akteure, die über ihre Erlebnisse und Emotionen, über Schmerz und Leid berichten dürfen. Oder aber es produziert Pseudo-Ereignisse, die nur stattfinden, weil eine Kamera in der Nähe ist: Die Interviewten schildern ihre Gefühle, wobei es um die Vermittlung nicht aufgesetzt wirkender Selbstdarstellung geht.
Die Handykultur ermöglicht neue Formen der Selbstinszenierung
Medienformate wie „Big Brother“ oder die Enthüllungsgeschichten und intimen Einblicke der Talkshows und Facebook-Seiten, aber auch die Handykultur verweisen auf neue Möglichkeiten der Selbstinszenierung.
Diese können auch auf ältere Traditionen der Bekenntnisliteratur und die neuere Geschichte einer therapeutischen Gesprächskultur zurückgeführt werden. In allen Sparten der öffentlichen Medienarbeit versucht man heutzutage, Authentizitätseffekte herzustellen. Moderatoren, Nachrichtensprecher und Entertainer sind darauf angewiesen, ein Mittel zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen Intimität und Distanz herzustellen, um Glaubwürdigkeit zu bewirken.
Und so bahnt sich „das Authentische“ heute auch seinen Weg in die politischen Institutionen. Dabei dürfen freilich Politiker/innen und andere Medienakteure nicht von sich behaupten, authentisch zu sein oder zugeben, authentisch wirken zu wollen. Denn intendierte Kommunikation von Authentizität verwirkt den Kern authentischer Rezeptionserfahrung. Wenn also jemand als authentisch wahrgenommen wird, geht dies über die Frage der Glaubwürdigkeit weit hinaus. Charisma erlangen Politiker/innen heute nicht allein durch politisches Handeln, sondern durch eine Persönlichkeitskultur, die auf Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit, Überzeugungskraft sowie auf Empfindungen und Emotionen setzt.
Mehr denn je kommt es auf das Moralische und das Private an
Authentizität kann insofern als ein modernes soziales Kommunikationsideal aufgefasst werden. Es setzt Sachlichkeit und Stringenz der Argumente in eine Beziehung zur wahrgenommenen Authentizität und zur Glaubwürdigkeit. Das Ergebnis: Mehr denn je kommt es im Politischen als auch in der Auseinandersetzung mit dem Historischen auf das Moralische an – und auf das Private.
- Der Autor ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung und Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds „Historische Authentizität“. Der Artikel basiert auf einem Beitrag für die Internetenzyklopädie Docupedia.
Achim Saupe