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Auf die Plätze. Auch die Schulen müssen Kinder beim Übergang von der Kita unterstützen, sagt Sandra Schmiedeler.
© picture alliance / dpa

Interview: „Nichts spricht dagegen, Kinder früh einzuschulen“

Die Psychologin Sandra Schmiedeler erklärt, warum prinzipiell nichts dagegen spricht, Kinder auch mit fünfeinhalb einzuschulen - und wie Eltern erkennen, ob ihr Kind schulfähig ist.

Frau Schmiedeler, in Berlin wird derzeit wieder heftig diskutiert, ob Kinder mit fünfeinhalb Jahren schon in die Schule gehen können. Wann ist ein Kind „schulreif“?
Wir sind ein bisschen davon weggegangen, von „Schulreife“ zu sprechen, weil man unter Reifung streng genommen einen biologischen Prozess versteht, der unabhängig von Umwelterfahrungen verläuft. Deshalb sprechen wir heute eher von Schulfähigkeit oder auch, angelehnt an den angelsächsischen Sprachgebrauch, von Schulbereitschaft.

Körperlichen Merkmalen wird also keine große Bedeutung mehr beigemessen?

Es gibt letztendlich kein körperliches Maß für die Schulreife. Früher wurde dafür das sogenannte Philippinermaß eingesetzt: Das Kind musste mit der Hand über den Kopf bis zum Ohr kommen. Doch wir wissen inzwischen, dass das keine Aussagekraft hat. Wir haben es mehr aus Spaß in unsere eigene Untersuchung einbezogen und festgestellt: Es gibt keinen Zusammenhang mit anderen Messgrößen, deren Bedeutung wir kennen. Andere körperliche Maße sind natürlich wichtig. Dass das Kind gut sieht und hört, und dass es von seiner Motorik her weit genug entwickelt ist.

Woran kann man dann erkennen, ob ein Kind „schulfähig“ ist?

Das ist keine isolierte, einzelne Eigenschaft, die man einfach so feststellen könnte. Man kann es aber an einem ganzen Bündel von Merkmalen festmachen. Da sind einmal die sprachlichen Fähigkeiten, zum Beispiel der Wortschatz. Zusätzlich gibt es spezifische sogenannte Vorläuferfertigkeiten im Bereich Schriftsprache und im Bereich Mathematik, die schon vorhanden sein sollten. Ganz wichtig ist auch die Kompetenz, motiviert zu lernen, zu der eine gewisse Bereitschaft gehört, sich anzustrengen. Nicht zu vergessen die sozialen Fähigkeiten: Das Kind sollte fähig sein, klaren Regeln zu folgen, sich in eine Gruppe einzufügen.

Die sozialen Kompetenzen müssen Kinder schon in der Kita unter Beweis stellen.

Das stimmt, aber in der Schule kommt einiges dazu: Die Kinder müssen über einen längeren Zeitraum auf ihrem Platz bleiben können, sie dürfen auch nicht einfach so dazwischenrufen. Die Ansprüche sind höher, es wird eine neue Form der sozialen Zurückhaltung erwartet.

Also etwas, was Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) besonders schwerfällt. Werden diese Kinder später schulreif?

Es fällt auf, dass häufiger Kinder vom Schulbesuch zurückgestellt werden, die eine ausgeprägte ADHS-Symptomatik zeigen. In meinen Augen sind solche Symptome aber kein Grund, ein Kind zurückzustellen. Denn die Probleme werden bleiben, wenn man nichts dagegen unternimmt. Viel besser ist es also, zu schauen, wie das Kind dabei unterstützt werden kann, die Anforderungen der Schule zu schaffen.

Warum auch Zurückstellen negative Folgen haben kann

Sind die Einschulungsuntersuchungen gut genug, um psychische und soziale Probleme der Kinder rechtzeitig zu erkennen?

Es existiert noch kein Testinstrument, mit dem wir alle Facetten zusammen erfassen könnten. Die Tests zur sprachlichen Entwicklung und zu den spezifischen Vorläuferfertigkeiten sind schon sehr ausgereift und aussagekräftig. Doch im Bereich der sozialen und der emotionalen Kompetenzen erhoffen wir uns den Einsatz besserer Tests. Es gibt sie zwar, doch es wird noch nicht genug Wert auf diesen Sektor gelegt.

Welche Rolle spielen die Kita-Erzieherinnen bei der Beurteilung der Schulreife?

Ich denke, das ist fast das Wichtigste, das Eltern machen sollten: Sich mit den Erziehern und Erzieherinnen kurzschließen, denn sie kennen das Kind über einen langen Zeitraum und haben viel Erfahrung mit gleichaltrigen Kindern. Insgesamt sollte die Kooperation von Kita-Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen gemeinsam mit den Eltern weiterhin gestärkt werden.

Kommt es nicht auch auf die Schule an, darauf, ob sie bereit ist für das junge Kind?

Dass das wichtig ist, wird vielfach in wissenschaftlichen Modellen hervorgehoben. Schulbereitschaft ist eine Kombination aus Kind, Familie, Schule, Kindergarten. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe. Was unsere Schulen betrifft, so sind sie heute meiner Ansicht nach schon sehr gut darin, die Kinder beim Übergang zu unterstützen, zum Beispiel mit Probeunterricht und spielerischen Formen des Lernens.

Auch schon mit fünfeinhalb Jahren, wie viele Erstklässler jetzt in Berlin?

Aus meiner Sicht spricht nicht prinzipiell etwas dagegen, den Stichtag zu verlegen und Kinder früher einzuschulen. Voraussetzung ist aber, dass dabei Flexibilität für das einzelne Kind gewährleistet ist.

Was wissen wir heute über die weitere Entwicklung früh eingeschulter Kinder? Ältere Langzeitstudien malen ein düsteres Bild, bis hin zu beruflichen Misserfolgen und erhöhter Anfälligkeit für Alkohol.

Die Studien, die es mittlerweile gibt, zeigen kein einheitliches Bild. Untersuchungen aus Deutschland legen zwar nahe, dass mit sieben eingeschulte Kinder in der Schule etwas besser abschneiden als ihre Klassenkameraden, die mit sechs in die erste Klasse kamen. Internationale Studien zeigen aber teilweise gegenläufige Befunde. Zudem sind die Effekte oft nur sehr klein. Diskutiert wird auch, ob jünger eingeschulte Kinder ein höheres Risiko tragen, ADHS-Symptome zu entwickeln. Bisher haben wir hier aber nur minimale Unterschiede gesehen. Was wir aber ganz sicher wissen: Der familiäre Rahmen spielt eine entscheidende Rolle.

Sollte man sich im Zweifelsfall bemühen, das Kind ein Jahr zurückzustellen?

Das ist sicher nicht die Patentlösung! Wir wissen, dass Zurückstellungen keine Garantie für einen größeren Schulerfolg bieten. Es gibt sogar Studien, in denen Kinder, die zurückgestellt wurden, später in der Schule mehr Verhaltensprobleme zeigten. Es bleibt also nichts anderes übrig, als ganz individuell zu schauen, ob ein Kind schon so weit ist oder nicht. Ich denke, hier sind wir mit der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Kitas, Schulärzten, Grundschulen und Eltern eigentlich in Deutschland auf einem ganz guten Weg.

- Sandra Schmiedeler ist Psychologin an der Uni Würzburg. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Schulfähigkeit von Kindern, die im Vorschulalter Probleme mit der Aufmerksamkeit haben.

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