Denazifizierung: „Nicht tragbar“
Zwischen Suspendierung und Reintegration: Die Universität erforscht ihre eigene Personalpolitik nach 1945.
„Die Technische Hochschule Berlin hat Ende April 1945 aufgehört zu bestehen. Die Dienstverhältnisse der Arbeiter, Angestellten und Beamten sind erloschen“, so der kommissarische Verwaltungsdirektor der Hochschule am 2. Juni 1945. Am selben Tag hatte sich unter dem Vorsitz des Physik-Nobelpreisträgers Gustav Hertz ein „Arbeitsausschuss zur Vorbereitung der Wiedereröffnung der Technischen Hochschule“ gegründet, dem politisch unbelastete Wissenschaftler der ehemaligen TH Berlin angehörten: Georg Schnadel, Walter Kucharski, Georg Garbotz, Max Volmer, Emil Rüster, Aloys Timpe, Helmut Stark und Rudolf Wille. Da Hertz nach nur einer Woche im Amt in die Sowjetunion abgeworben wurde, übernahm Schnadel den Vorsitz.
Der Ausschuss sah sich schwierigen Aufgaben gegenüber: dem institutionellen und materiellen Wiederaufbau der Hochschule sowie der Überprüfung des alten und der Bildung eines neuen Lehrkörpers. Zu diesem Zweck wurde ein „Unterausschuss zur Prüfung der Eignung der Hochschullehrer für die neue Technische Hochschule Berlin“ gegründet. Dieser begutachtete die Hochschullehrer nach fachlichen und politischen Kriterien. „Radikale Parteigenossen“ wurden als „nicht tragbar“, qualifizierte Fachleute mit einer nur formellen Zugehörigkeit zur NSDAP zunächst als geeignet bezeichnet.
Bis zum Herbst 1945 wurden 37 aktive oder langjährige NSDAP-Mitglieder ausgemustert, weitere sollten folgen. Im März 1946 erklärte Walter Kucharski, anfangs kommissarischer und nach Gründung der TU Berlin erster Nachkriegsrektor, dass „das gesamte Personal der Technischen Hochschule Berlin nunmehr nach den kürzlich ergangenen Gesetzen der Alliierten und dem dazugehörigen Rundschreiben des Magistrats vom 15. März 1946 denazifiziert worden ist“.
Doch für die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs wurde mehr Personal benötigt. Aus diesem Grunde wurden immer mehr Ausnahmen gemacht und ehemalige Parteigenossen eingestellt; fachliche Kompetenzen wogen den Einsatz für den Nationalsozialismus häufig auf.
Widersprüche im Personalverfahren
Das Netz für ehemalige Nationalsozialisten wurde mit den Jahren immer durchlässiger. Ab Februar 1949 durfte bei Einstellung in den öffentlichen Dienst nicht mehr nach der Zugehörigkeit zur NSDAP oder deren Gliederungen gefragt werden, im April 1949 folgten Amnestiebestimmungen, und am 11. Mai 1951 beendete das Entnazifizierungsschlussgesetz den Entnazifizierungsprozess. Alle Angestellten, die in diesem Prozess nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, durften wieder eingestellt werden, und so fanden auch solche Professoren wieder Aufnahme, die noch 1945 als stark Belastete aus den Diensten der Hochschule hatten ausscheiden müssen. Etwa auch Franz Bachér, NSDAP-Mitglied seit 1931, von 1934 bis 1945 Professor und Leiter des Organisch-chemischen Instituts an der TH Berlin und von 1934 bis 1937 erst Stellvertreter, dann Leiter der Hochschulabteilung im Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Bachér wurde 1945 aus der Hochschule entlassen: „Es fehlt die wissenschaftliche Qualifikation. Er war SS-Mann und Parteigenosse scharfer Richtung und kam nur als solcher in die Fakultät hinein. Im Ministerium hat er dauernd für die Ernennung von Parteigenossen gewirkt“, so das Urteil des „Ausschusses zur Prüfung der Hochschullehrer für die neue TH Berlin“. 1953 kehrte Bachér jedoch an die TU Berlin zurück, erst als Lehrbeauftragter, von 1954 bis zu seiner Emeritierung als Professor für Organische Chemie.
Auch einige Personalentscheidungen in der Humanistischen Fakultät verdienen einen kritischen Blick. Warum wurde Alfred Herrmann, seit Mai 1937 Mitglied der NSDAP, der 1940/41 im Generalgouvernement Vorträge vor deutschen Besatzungsbeamten, Wehrmachtsoffizieren und Führern von SS und Polizei hielt, auf den Lehrstuhl für Geschichte berufen? Warum erhielt der „Rassenforscher“ Herrmann Muckermann den Lehrauftrag für Anthropologie und Sozialethik, obwohl er in seinem 1935 erschienenen „Grundriss der Rassenkunde“ vor der Ehe mit „Fremdrassigen“ warnte und anmerkte, dass die Taufe aus einem Juden zwar einen Christen machen könne, sein Erbgefüge dadurch aber nicht geändert wird. Von der „Bedeutung der Rassenfrage für die Gestaltung des Volkes der Zukunft“ war er überzeugt und bot sich an, um Verständnis für die Nürnberger Gesetze zu werben. Weil er als überzeugter Katholik ab 1936 Rede- und Publikationsverbot erhielt, galt Muckermann nach 1945 als Verfolgter des Nationalsozialismus, seine Beteiligung an der nationalsozialistischen „Rassenforschung“ fand keine Erwähnung mehr.
Doch was wurde aus den Angehörigen des Lehrpersonals, die während des Nationalsozialismus von der Hochschule vertrieben wurden? Verliefen ihre Rückberufungen ähnlich problemlos wie die der ehemaligen NSDAP-Angehörigen? Die Technische Hochschule Berlin hatte mindestens 107 Angehörige des wissenschaftlichen Personals aus „rassischen“ oder politischen Gründen entlassen. Nur sechs kehrten nach 1945 an die Hochschule zurück: die Professoren Hans Heinrich Franck (Technische Chemie), Walther Koeniger (Wärmewirtschaft und Kältetechnik) und Gustav Leithäuser (Hochfrequenztechnik) und die Privatdozenten Hermann Deite (Staatswissenschaft), Waldemar Koch (Betriebswirtschaftslehre) und Erik Liebreich (Elektrochemie).
Sie alle waren während der Zeit des Nationalsozialismus in und um Berlin geblieben. Von den während des Nationalsozialismus 69 emigrierten Wissenschaftlern kehrte nach 1945 niemand dauerhaft an die Hochschule zurück. Eine generelle Einladung zur Rückkehr der Vertriebenen in den Lehrbetrieb seitens der TU Berlin gab es nicht.
Zur Autorin: Dr. Carina Baganz ist Leiterin des Projekts „Kriegsende und Neubeginn – Entnazifizierung und Personalpolitik an der TU Berlin“ am Zentrum für Antisemitismusforschung und Kuratorin der Ausstellung „Kriegsende und Neubeginn – Von der Technischen Hochschule zur Technischen Universität Berlin“
DIE AUSSTELLUNG
Die Herrschaft der Nationalsozialisten hatte an der traditionsreichen und geschichtsträchtigen Technischen Hochschule Berlin tiefe Spuren hinterlassen. Durch die „Gleichschaltung“ sowie die Ausgrenzung und Vertreibung der „nichtarischen“ und politisch unliebsamen Angehörigen des Lehrkörpers und der Studierenden hatte die Hochschule nicht nur den Betroffenen, sondern auch sich selbst großen Schaden zugefügt. Zugleich profitierte sie von der Förderung der wehrtechnischen Fächer, bis Bomben und Artillerie sie ab 1943 in Schutt und Asche legten.
Viele hofften darauf, doch nur wenige glaubten daran, dass der Lehrbetrieb wieder aufgenommen werden könnte. Doch bereits ein Jahr nach Kriegsende, am 9. April 1946, wurde unter Regie der britischen Besatzungsmacht die Technische Universität Berlin eröffnet. Um den Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu dokumentieren, wurde bewusst keine Wieder-, sondern eine Neueröffnung gefeiert: Aus der Technischen Hochschule wurde die Technische Universität Berlin. Der Namenswechsel sollte verdeutlichen, dass nicht ein Wiederaufbau alter Institutionen, sondern ein Neuanfang beabsichtigt war.
Die TU Berlin nimmt ihr 70. Gründungsjubiläum zum Anlass, mit einer Ausstellung, die im Rahmen eines Forschungsprojekts am Zentrum für Antisemitismusforschung der Universität entstanden ist, an die Zeit des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Sie wird am 18. April 2016 mit einer Festveranstaltung im Lichthof der TU Berlin eröffnet und dann mehrere Wochen auf dem Vorplatz des Hauptgebäudes an der Straße des 17. Juni zu sehen sein. Der Eintritt ist frei.
Carina Baganz