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Roger Willemsens: Neues Zuhause im Reisen

Der Publizist Roger Willemsen lehrt an der Humboldt-Universität Berlin.

Gemessen an der akademischen Atmosphäre und der Anzahl promovierter und habilitierter Personen im Raum hätte sie sich für Roger Willemsen wie ein Heimspiel in vertrauten Gefilden anfühlen müssen: seine Antrittsvorlesung als Honorarprofessor an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität am Montagabend. Schließlich hatte er 1994 seine Dissertation über Robert Musil vorgelegt, eine umfassende Studie zur Dichtungstheorie des österreichischen Schriftstellers, und im Anschluss als Assistent an der LMU München bereits an seiner Habilitationsschrift über den Selbstmord in der Literatur gearbeitet. Das Werk brach er zugunsten seiner Arbeit als freier Redakteur ab, der Rest ist Geschichte.

Willemsen ist Journalist, Essayist, Kolumnist, schreibt Bücher, führt Interviews, sitzt in Talkshows – ein wahrer Mann mit Eigenschaften. Selbstverständlich schien es ihm aber keinesfalls, als Dekan Michael Kämper-van den Boogaart ihm eine Honorarprofessur bei den HU-Germanisten antrug: „Ich hoffe, ich erweise mich dieser Ehre würdig“, bedankte sich Willemsen, bevor er in seiner knapp einstündigen Vorlesung zur „Poetik des Fortfahrens“ Überlegungen zum Verhältnis von Reiseerfahrung und Literatur entfaltete.

Ganz Germanist, machte Willemsen zunächst auf eine etymologische Auffälligkeit aufmerksam. Begriffe wie „Erfahrung“ oder „in etwas bewandert sein“ verwiesen auf den Zusammenhang zwischen Wissen und Reisen, der sich in der Sprache abgelagert habe. Sich an fremde Orte zu begeben und Erkenntnisgewinn zu erzielen, träfen grundsätzlich zusammen. Wohin die Reise zu gehen habe und was genau es dabei zu erkennen gilt, darüber seien die Auffassungen in den vergangenen Jahrhunderten durchaus verschieden gewesen.

Im Zuge der Industrialisierung sei eine regelrecht epidemieartige Reisewut ausgebrochen. Der Tourismus avancierte zum Massenphänomen, Reiseführer und -agenturen lehrten den adäquaten Umgang mit Sehenswürdigkeiten, Orte und Denkmäler wurden kanonisiert. „Man musste gotische Fassaden erst lesen lernen“, sagte Willemsen.

Die Reiseliteratur hätte sich vor diesem Hintergrund zunehmend als eine Mischgattung etabliert, der bloße Bericht seit dem 19. Jahrhundert eine Poetisierung erfahren. „Der Schriftsteller wird zum Gründer eines eigenen Ortes, der vom Leser bereist wird. Hier verflüchtigt sich die Fremde, Themen sind nicht mehr echte, sondern symbolische Orte.“ Um 1900 wurde dann gefragt, wo im Reisen ein Zuhause möglich sei; Sigmund Freud begründete das Paradigma einer „Reise nach innen“.

Nicht zuletzt zeugte das Thema der Antrittsvorlesung auch von Willemsens Leidenschaft für die Literatur: „Bücher wollen bereist werden.“ Ein schönes Bonmot zum Auftakt seiner Lehrtätigkeit, die seine Studierenden allerdings in andere Gebiete führen wird. Im Wintersemester gibt Willemsen ein Seminar zum Thema „Epiphanie“. Für Autoren wie Joyce, Musil und Proust sei dies ein Erlebnis der „Einheit von Glück und Erkenntnis“ gewesen, eine „,Erscheinung‘ der Dinge in einem produktiven Aufschwung“, schreibt Willemsen im Vorlesungsverzeichnis.

Anna-Lena Scholz

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