Deutschlandlied: Neue Hymnen für das Land
Nach 1945 fehlte ein Deutschlandlied. Viele Bürger reichten Vorschläge ein, auch der Bundespräsident. Ein Gastbeitrag
Blitzlichtgewitter, Nachfragen der Journalisten, Gekritzel in Notizblöcke: Es war zwar nicht das vertraute Parkett der Bonner Bundespressekonferenz, sondern das Schöneberger Rathaus – und doch genoss Konrad Adenauer die Szenerie an diesem 19. April 1950 sichtlich. Er absolvierte gerade seinen ersten Berlinbesuch als Bundeskanzler. Ursprünglich war die Visite von Adenauers ablehnender Haltung, Berlin als zwölftes Bundesland anzuerkennen, überschattet gewesen. Eine geschickte Regieanweisung gab dem Besuch jedoch eine neue Wendung.
Tags zuvor hatte der Bundeskanzler im Steglitzer Titania-Palast zum Abschluss seiner Rede die dritte Strophe des Deutschlandliedes anstimmen lassen: „Wenn ich Sie nunmehr, meine Damen und Herren, bitte, die dritte Strophe des Deutschlandliedes zu singen, dann sei uns das ein heiliges Gelöbnis, dass wir ein einiges Volk, ein freies Volk und ein friedliches Volk sein wollen.“
Jetzt, fünf Jahre nach Ende des Krieges, sollten die Deutschen wieder ein Lied haben. Zwischenzeitlich schien die von Hoffmann von Fallersleben getextete Hymne für immer verloren. Sie war in der Weimarer Republik das Lied der Deutschen geworden. Die Nationalsozialisten hatten zur ersten, eroberungsseligen Strophe das Horst-Wessel-Lied als Präludium singen lassen. 1945 wurde das Deutschlandlied für die amerikanische Zone neben etlichen anderen Liedern und Symbolen verboten. Einen ebensolchen Beschluss des Alliierten Kontrollrates gab es, anders als häufig zu lesen, zwar nicht. Aber angesichts der Verbrechen der NS-Zeit war die Hymne zumindest international in Misskredit.
Das Singen auch nur der dritten Strophe hatte etwas Aufrührerisches
Zu Beginn der Pressekonferenz in Berlin forderte ein Journalist der „Daily Mail“ eine Stellungnahme zum Absingen der dritten Strophe im Titania-Palast, und Adenauer zeigte sich „über diese Aktion und Reaktion sehr verblüfft und erstaunt“. „Mir scheint wirklich Berlin eine Insel zu sein“, kommentierte der Bundeskanzler. Es war jedoch längst noch nicht gang und gäbe, auch nur die dritte Strophe des Deutschlandliedes anzustimmen, war doch stets etwas Aufrührerisches gegenüber den Besatzungsmächten mit dabei. Der sozialdemokratische Journalist Richard Löwenthal fragte denn auch, ob es zutreffend wäre, dass der Parlamentarische Rat bewusst auf das Deutschlandlied als feierlichen Schlussakkord verzichtet habe, was Adenauer zugeben musste. Er fügte jedoch hinzu, „seit der Zeit sind wir auch in unserem deutschen Selbstbewusstsein und in der deutschen Einigkeit hoffentlich einen Schritt weitergekommen“.
In der verfassunggebenden Versammlung, dem Parlamentarischen Rat, hatte man sich noch mit einem im 19. Jahrhundert in Studentenkreisen beliebten Lied beholfen: „Ich hab mich ergeben / Mit Herz und mit Hand, / Dir, Land voll Lieb’ und Leben / Mein deutsches Vaterland!“
Doch das Vakuum, das die ob ihres nationalistischen Auftakts weithin diskreditierte Hymne hinterlassen hatte, trieb die Deutschen um. Bundespräsident Theodor Heuss höchstselbst verfolgte gemeinsam mit seiner Frau Elly Heuss-Knapp ein persönliches Hymnenprojekt. 1950 bat Heuss den befreundeten Dichter Rudolf Alexander Schröder, eine neue Nationalhymne zu schaffen. Schröder galt als Erneuerer des evangelischen Kirchenliedes. In der Koproduktion des Ehepaars Heuss mit Schröder wurde die Vaterlandsliebe mit den christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung verbunden. Bei der Neujahrsansprache zum Jahresende 1950 las der Bundespräsident den Text mit seiner sonoren Stimme vor, und anschließend wurde das Werk als Komposition Hermann Reutters uraufgeführt – und fiel bei den Deutschen durch. Sie griffen nun selbst zum Stift.
2000 Bürgerinnen und Bürger machten Vorschläge
In der hymnenlosen Zeit der Bundesrepublik entstanden zwischen Spätsommer 1949 und Mai 1952 beinahe an die 2000 unaufgefordert eingesandte Vorschläge für eine neue Nationalhymne. Auffallend viele Berliner finden sich unter den Einsendern, so auch der ehemalige Reichskunstwart der Weimarer Republik Edwin Redslob. Der damalige Rektor der Freien Universität Berlin und Mitbegründer des Tagesspiegels wollte die Staatssymbolik der neuen Bundesrepublik aktiv und kreativ mitgestalten.
Gelegen kam Redslob, dass dem Bundespräsidenten am 1. November 1949 die Ehrendoktorwürde der Universität verliehen wurde. Anlässlich der Übersendung der Urkunde schrieb Redslob an Heuss: „Da mich bei ihrem Besuch die Frage bewegt hat, dass eine deutsche Hymne uns fehlt, habe ich unmittelbar danach (…) den Eindruck Ihrer Anwesenheit, insbesondere der Feiern im Rahmen der Universität und vor dem Schöneberger Rathaus verarbeitet und ein paar einfache und, wie ich hoffe, einprägsame Verse geschrieben.“
Die Melodie lehnte sich an Beethovens Opus „Die Himmel rühmen“ an, und der FU-Chor hatte bereits das Rektorenwerk fest in seinem Repertoire. Redslob berichtete von der „Begeisterung und Zustimmung der jungen Menschen“, als sie die Verse erstmals vorgelesen bekamen. Wäre, so fragte Redslob hoffnungsvoll und behutsam an, Beethovens Geburtsstadt Bonn nicht der geeignetere Ort für eine Aufführung? Sein Hymnentext orientierte sich an den wichtigsten deutschen Flüssen (zum Text hier).
Weder Redslobs Versuch noch irgendeine der anderen Einsendungen an verschiedene Instanzen der jungen Bundesrepublik hatten eine reale Chance. Sie erlauben aber einen Blick in die verwundete Nachkriegsseele der Deutschen. In den Hymnenvorschlägen malte eine gefühlsstarke Gemeinschaft das Panoramabild einer vergangenen heilen Welt. Dort waren die Menschen nah bei Gott, dieser war nah bei den Deutschen. Der Kommunismus war fremd, die Memel aber noch deutsch und die Kleinfamilie – Mann, Frau und Kind – bildete den Kern der Gesellschaft. Der deutsche Wald war so geheimnisvoll und schön wie zu Eichendorffs Zeiten und die Rheinfrische suchte man auf, um sich vom fleißigen Tagwerk zu erholen.
"Der Eisler-Becher-Hymne ein neues Symbol entgegengesetzt"
Es war ein formaler Briefwechsel zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten, der im Mai 1952 schließlich die Rechtsgrundlage für die neue alte Nationalhymne bildete. Etliche Botengänge zwischen Bundespräsidialamt und Kanzleramt waren vonnöten, um die genauen Modalitäten zu klären. Adenauer verband seine wiederholte Bitte an Heuss, das Deutschlandlied als Nationalhymne anzuerkennen, unter anderem mit einer höflichen Verbeugung vor der „inneren Berechtigung“ des fehlgeschlagenen Heuss-Projekts.
Doch allzu leicht wollte es Heuss dem Staatsvolk nicht machen. In „Anerkennung des Tatbestandes“ der ungeminderten Popularität des Deutschlandliedes, wobei er den „Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis“ der Deutschen unterschätzt habe, kam Heuss schlussendlich der Bitte der Bundesregierung nach. Als Warnung an alle Ewiggestrigen führte er weiter aus, dass Hoffmann von Fallersleben ein schwarz-rot-goldener Patriot gewesen sei. Der Tagesspiegel berichtete aus der Perspektive der Frontstadtbewohner, die dem Bundespräsidenten dankbar seien, „dass er der sowjetdeutschen Eisler-Becher-Hymne ein neues Symbol entgegengesetzt“ habe.
Rund 39 Jahre später wiederholte sich die Geschichte – diesmal unter gesamtdeutschem Vorzeichen. Nun galt es zu klären, welche Hymne das wiedervereinigte Deutschland haben sollte. Bundespräsident Richard von Weizsäcker ergriff die Initiative und schickte am 19. August 1991 – zehn Monate nach der deutschen Einheit – Bundeskanzler Helmut Kohl einen Brief mit der Feststellung: „Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben ist die Nationalhymne für das deutsche Volk.“
Der Autor ist Historiker. Von ihm erscheint in diesen Tagen ein Buch zum Thema. Clemens Escher: „Deutschland, Deutschland, Du mein Alles!“ Die Deutschen auf der Suche nach ihrer Nationalhymne 1949–1952, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017, 364 Seiten, 39,90 Euro. Am Sonnabend, 22. April, diskutiert der Althistoriker Werner Dahlheim mit Clemens Escher in der Schwartzschen Villa (Grunewaldstraße 55, 12165 Berlin) ab 20 Uhr über das Buch. - Am 26. April spricht Christoph Stölzl, Präsident der Musikhochschule Franz Liszt Weimar und Senator a.D., über „Nationalhymnen - Symbole der Identität und historisches Gedächtnis". Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Tiergartenstraße 35, 10785 Berlin.
Clemens Escher