Medikamente: Neue Aufgaben für alte Pillen
Viele Medikamente helfen gegen mehr als eine Krankheit. Jetzt suchen Forscher gezielt solche Multitalente.
Medikamente erleben mitunter einen zweiten Frühling. Thalidomid zum Beispiel. Die Arznei wurde Ende der 50er-Jahre unter dem Namen „Contergan“ als Beruhigungsmittel und gegen Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt. Als Mediziner erkannten, dass der Wirkstoff in den ersten Monaten der Schwangerschaft schwere Fehlbildungen verursacht, wurde er vom Markt genommen. Heute wird das Mittel wieder eingesetzt: gegen Lepra und multiples Myelom, eine Krebserkrankung des Knochenmarks. Das Molekül Sildenafil wurde zuerst als Mittel gegen Bluthochdruck untersucht, machte dann als Erektionsretter „Viagra“ Karriere und wird inzwischen auch gegen die seltene Krankheit Lungenhochdruck eingesetzt. Und „Aspirin“, als Schmerzmittel genutzt und um das Risiko eines Herzinfarktes zu mindern, schützt vermutlich auch vor manchen Krebserkrankungen.
Jetzt haben Forscher der Universität Stanford eine Methode entwickelt, um unter alten Medikamente gezielt nach solchen neuen Nutzen zu fahnden und zum Beweis ihrer Methode auch gleich zwei erste Kandidaten im Labor bestätigt. Für ihre Untersuchung verwendeten dieWissenschaftler öffentlichverfügbare Daten darüber, wie Medikamente und Krankheiten die Gene beeinflussen.
In jeder Zelle werden einige Gene häufig abgelesen andere selten oder nie. Forscher können dieses Muster schon seit vielen Jahren mithilfe von Genchips für alle 30000 Gene des Menschen gleichzeitig bestimmen und zum Beispiel untersuchen, ihre Aktivität zwischen gesunden Menschen und Menschen mit einer Krankheit unterscheidet. Pharmakologen nutzen die selbe Technik, um herauszufinden, was bestimmte Medikamente mit den Genen anstellen. Das Team um den Systembiologen Atul Butte hat diese beiden Datensätze nun zusammengeführt. „Unsere Hypothese war: Wenn eine Krankheit durch bestimmte Veränderungen in der Genaktivität charakterisiert ist und wenn eine Substanz genau die entgegengesetzten Veränderungen verursacht, dann könnte diese Substanz als Medikament gegen die Krankheit taugen“, sagt Butte.
Die Forscher verglichen die Daten für 100 Krankheiten mit denen für 164 Substanzen und suchten nach Paarungen, bei denen die genetische Signatur der Substanz das genaue Gegenteil der genetischen Signatur der Krankheit war. Für 53 Krankheiten fanden die Wissenschaftler solche Wirkstoffe. Einige dieser Paarungen bestätigten lediglich, was bereits bekannt war, etwa, dass das Medikament Prednisolon bei entzündlichen Darmerkrankungen hilft. Andere Verbindungen waren neu: So sagten die Tests voraus, dass das Epilepsie-Medikament Topiramat möglicherweise gegen entzündliche Darmerkrankungen hilft. Und der Wirkstoff Cimetidin, der die Säureproduktion im Magen hemmt und gegen Sodbrennen eingesetzt wird, könnte gegen eine bestimmte Form von Lungenkrebs eingesetzt werden.
Im Labor konnten die Forscher diese Vorhersagen in ersten Versuchenbestätigen. So tötet Cimetidin Lungenkrebszellen in der Petrischale und hemmt das Wachstum eines Lungentumors in Mäusen. „Patienten sollten jetzt aber nicht einfach beginnen, diese Medikamente zu nehmen. Zunächst muss in klinischen Studien untersucht werden, ob sie den betroffenen Menschen wirklich helfen“, warnt Butte.
John Overington, Leiter der Gruppe Chemogenomik am Europäischen Institut für Bioinformatik in Hinxton bei Cambridge, bezweifelt, dass die beiden Medikamente es weit bringen werden: „Topiramat hat sehr viele verschiedene Effekte und komplexe Nebenwirkungen und die Dosis von Cimetidin, die nötig war, um einen Effekt zu erzielen, war recht hoch“, warnt er. Die Studie lobt er dennoch als hervorragend. „Das ist ein wirklich wichtiges Konzept. Es ist, als würden sie nach einem Gegengift für Krankheiten suchen.“
Auch für Stefan Schreiber, Experte für die Genetik entzündlicher Darmerkankungen an der Universität Kiel, ist das Schicksal der beiden Medikamente nicht das Entscheidende. „Wenn diese Therapie im Menschen auch noch wirkt, ist das natürlich toll. Aber das Wichtigste ist, dass jemand all diese vorhandenen Genomdaten genommen hat und gezeigt hat, was man damit machen kann“, sagt der Gastroenterologe.
Seit Jahren untersuchen Forscher, welche alten Medikamente für neue Zwecke eiengesetzt werden könnten. Denn neue Wirkstoffe zur Marktreife zu bringen, ist äußerst aufwendig. Im Durchschnitt dauert die Entwicklung eines neues Medikamentes mehr als zehn Jahre und kostet mehr als eine halbe Milliarde Euro. Weil zugelassene Medikamente bereits zahlreiche Sicherheitstests hinter sich haben, können sie schneller und kostengünstiger entwickelt werden. Sind die Patente bereits abgelaufen, könnten sie außerdem sehr viel billiger sein als neue Wirkstoffe.
Overington sieht genau darin allerdings ein Problem: „Es ist schwer, sich vorzustellen, wie jemand damit Geld verdient“, sagt er. Die nötigen klinischen Tests könnten immer noch weit mehr als 100 Millionen Euro verschlingen. Geld, das eine Pharmafirma nur dann aufbringt, wenn sie hinterher auch als einzige das Medikament verkaufen und so die Kosten wieder einspielen kann.
„Das ist in der Tat das schwierige an solchen Medikamenten“, sagt auch Butte. Der Forscher glaubt aber, dass sich kreative Lösungen finden lassen. das Problem gelöst werden kann, zum Beispiel, indem Medikamente in einer neuen Form dargereicht werden, so dass sie ein neues Patent bekommen.
In jedem Fall sei es richtig, nach neuen Verwendungen für vorhandene Medikamente zu suchen“, sagt Schreiber. Dafür sei die neue Methode sehr wichtig.n jedem Fall sei es richtig nach solchen neuen Nutzen zu suchen.„Klar ist: Es gibt viele andere Verwendungen für Medikamente als die, die von Pharmafirmen vermarktet werden“, sagt Butte. „Wir haben bewiesen, dass wir diese mithilfe öffentlich verfügbarer Daten am Computer finden können.“ Und die Menge dieser Daten nimmt ständig zu. Als der Forscher vor fünf Jahren die Untersuchung begann, hatte er Zugang zu Daten von 100 Krankheiten und 164 Medikamenten, heute wären es etwa 1400 Krankheiten und 300 Medikamente, sagt er. Da gäbe es noch viel zu entdecken.
Kai Kupferschmidt
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