Evolution des Menschen: Neandertaler schufen die älteste Höhlenkunst - nicht der Mensch
War der Neandertaler ein eher einfacher Zeitgenosse oder ein kunstsinniger Feingeist? Höhlenmalereien in Spanien stammen wohl nicht vom Homo sapiens, sondern vom scheinbar primitiven Verwandten.
Ein „verkrüppelter Kosak“, der in der Jugend Schläge und im Alter Rachitis bekam. So interpretierte der damals schon weltberühmte Charité-Mediziner Rudolf Virchow die Skelettreste, die 1856 im Neandertal bei Düsseldorf von einem Realschullehrer entdeckt worden waren. Damit reihte er sich ein in eine lange Liste von Forschern, die den Neandertaler entweder nicht als eigenständige Menschenart einordnen oder als einen grobschlächtigen, wenig cleveren Cousin des Homo sapiens abtun wollte. Weder die Fähigkeit zur Sprache, noch vergleichbar höhere Intelligenzleistungen traute man Homo neandertalensis zu. Selbst als Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich Überreste von Neandertalern entdeckt wurden, die offensichtlich bestattet worden waren, sprach man ihm die Fähigkeit zu dieser kulturellen Handlung ab.
Höhlen-Graffitti stammt von Neandertalern
Spätestens seit Genforscher wissen, dass der Neandertaler dem Homo sapiens ähnlich genug war, um Nachkommen zu zeugen und genetische Spuren im Erbgut heutiger Menschen zu hinterlassen, wandelt sich das Bild von den ausgestorbenen Verwandten. Den letzten Zweifel an den geistigen Fähigkeiten der Neandertaler dürfte nun die jüngste Entdeckung deutscher Forscher beseitigen: Denn offenbar stammen mehr als 60.000 Jahre alte Höhlenmalereien in Norden Spaniens nicht von Homo sapiens sondern den vermeintlich tumben Neandertalern. Zu diesem Schluss kommen der Physiker Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig und seine Kollegen, wie sie im Fachblatt „Science“ berichten.
Zu sehen sind auf diesen meist roten und manchmal auch schwarzen Kunstwerken Linien, die sich zu einer Art Leiter zusammenfügen, Punkte, Scheiben oder auch Negative von Handabdrücken, die mit einer Sprühtechnik die Umrisse von Fingern und Händen erkennen lassen. Bekannt ist diese Steinzeitkunst schon lange: Die Höhle La Pasiega gilt bereits seit 2008 als Weltkulturerbe der Menschheit. Auch die Maltravieso-Höhle in der zentralspanischen Extremadura und die Ardales-Höhle in Andalusien im Süden des Landes werden bereits seit Jahrzehnten erforscht. Nur war es bislang sehr schwierig, das Alter der Kunstwerke in diesen Höhlen zu bestimmen.
Hunderte von Malereien vor Ankunft von Homo sapiens entstanden
Dieses Alter wiederum kann einen wichtigen Hinweis auf die Urheber der Höhlenkunst geben: „In Westeuropa sind wohl Hunderte von Fundstellen bekannt, die älter als 45.000 Jahre sind“, sagt Dirk Hoffmann. „Keine einzige davon stammt vom modernen Menschen Homo sapiens“. Kurz nach ihrem Auftauchen in Europa verschwanden die Neandertaler. Daher sollten Funde, die jünger als 40.000 Jahre sind, von modernen Menschen gezeichnet worden sein, während bei älteren Kunstwerken nach heutigem Wissenstand Neandertaler den Pinsel geführt oder die Farbpigmente an die Wände gepustet haben sollten.
Besonders gut eignet sich für solche Altersbestimmungen in Höhlen im Kalkgestein die Uran-Thorium-Methode, auf die sich Dirk Hoffmann spezialisiert hat. „Wir nutzen dabei Sinter-Schichten, die sich über den Kunstwerken oder anderen Funden gebildet haben“, erklärt der EVA-Forscher. Diese Schichten aus Kalkstein entstehen, wenn von der Oberfläche mit Kohlendioxid angereichertes Wasser Kalk löst, der in der Höhle wieder ausfällt. Zurück bleibt eine dünne Kalkschicht, die mit der Zeit zum Beispiel zu Tropfsteinen heranwächst oder auch eine Sinterschicht auf Steinzeitfunden bildet.
Zerfallsprozesse von Uran als Zeitmesser
Das Alter dieser Kalkschichten lässt sich mit Hilfe von natürlich vorkommendem Uran ermitteln, das sich zusammen mit dem Kalk im Wasser löst. Es zerfällt mit der Zeit zu Thorium, das allerdings nicht wasserlöslich ist. Der Kalk, der auf der Höhlenkunst allmählich eine Sinterschicht bildet, enthält anfangs also ein wenig Uran, aber kein Thorium. Das bildet sich in der Kalkschicht erst im Laufe der Jahrtausende, wenn das Uran zu Thorium zerfällt. Wie lange es braucht, bis sich eine bestimmte Menge Uran in Thorium verwandelt, wissen Naturwissenschaftler sehr genau. Messen die Forscher die Mengen an Uran und Thorium in der Kalkschicht, können sie deren Alter gut abschätzen. „Darunter liegende Höhlenzeichnungen oder andere Funde sollten daher etwas älter sein, die Sinterschicht zeigt also das Mindestalter der Malereien an“, sagt Dirk Hoffmann.
In der Höhle entfernte der Forscher daher Verschmutzungen von der Oberfläche und kratzte danach mit einem Skalpell vorsichtig dünne Schichten vom Sinter ab. Je näher diese Schichten am Kunstwerk liegen, umso älter sollten sie sein.
„Sobald wir die Farbpigmente erkennen können, nehmen wir keine weiteren Proben“, erklärt Dirk Hoffmann. So bleibt eine dünne Sinterschicht erhalten und das Kunstwerk aus der Urzeit wird nicht zerstört. Gleichzeitig können die Forscher gut bestimmen, wie alt die abstrakten Zeichen darunter mindestens sein müssen.
Nicht nur Zeichnungen, sondern auch bunter Schmuck
Die Künstler schufen ihre Werke demnach vor mindestens 64.800 Jahren. Und das ist durchaus eine Sensation, denn die ältesten Spuren des modernen Menschen in Europa, dem die Höhlenkunst bislang ausschließlich zugeschrieben wurde, sind allenfalls 45.000 Jahre alt. Die iberische Halbinsel erreichte Homo sapiens wohl sogar erst vor 41.000 Jahren. Damit sollten nach heutigem Stand des Wissens Neandertaler für die Kunstwerke in den spanischen Höhlen verantwortlich sein.
Ihre künstlerische Ader hatten Neandertaler allerdings schon viel früher entdeckt, zeigen die Forscher in einer weiteren Studie, veröffentlicht im Fachblatt „Science Advances“: In der Aviones-Höhle an der Mittelmeerküste im Südosten Spaniens fanden Archäologen Muschelschalen mit Löchern, die offensichtlich als Schmuck verwendet wurden. Andere Muschelschalen enthielten Reste von Farbe. Auch dort wendeten Dirk Hoffmann und seine Kollegen die Uran-Thorium-Methode an. „Die Schicht mit diesen Muschelschalen ist mindestens 115.000 Jahre alt.“
Viel ähnlicher als gedacht
Diese Kunstfertigkeit bis hin zur abstrakten Kunst, die keine Gegenstände, sondern deren abstrakte Symbole zeichnet, erfordert erhebliche geistige Fähigkeiten, die denen des modernen Menschen nicht nachstanden. Damit gehen Zweiflern langsam die Argumente aus und das Bild vom eher einfach gestrickten Neandertaler ist wohl vom Tisch. „Neandertaler konnten symbolisch denken und ihre geistigen Fähigkeiten lassen sich nach diesen Untersuchungen wohl kaum von den modernen Menschen unterscheiden“, meint auch João Zilhão von der Universität in Barcelona, der an beiden Studien mitarbeitete.
Genetisch ähnlich genug zur Fortpflanzung, geistig ebenso reif für Kunst und Kultur – bei so viel Übereinstimmung zwischen den beiden verwandten Arten ist es nun umso schwieriger zu erklären, warum die Neandertaler nur wenige Jahrtausende nach Eintreffen des modernen Menschen für immer verschwanden. Nur ihre Höhlenkunst, einige von ihnen verwendete Gerätschaften und ein paar Knochen zeugen heute noch vom Leben und der Schaffenskraft des engsten Verwandten von Homo sapiens.