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Kleine Kinder bekommen bei einer Operation heute eine wirksame Schmerzbehandlung.
© Caro / Trappe

Medizin: Narkose für Neugeborene - eine Revolution

Kaum zu glauben: Vor nicht allzulanger Zeit waren Mediziner noch der Ansicht, dass kleine Kinder bei einer Operation keine richtige Schmerzbehandlung benötigen. Heute weiß man, dass auch sie Pein verspüren.

„Beschreiben Sie Ihren Schmerz, bewerten Sie ihn auf einer Skala von null bis zehn!“ Selbst für einen Erwachsenen, der unter Migräne leidet oder dessen Knie bei jeder Bewegung wehtut, ist es nicht leicht, dem nachzukommen. Er oder sie kann immerhin versuchen, das Ausmaß der Beschwerden einzuschätzen und ihre Besonderheiten in Worte zu fassen. Ein Baby mit Bauchweh dagegen kann nur schreien und sich winden. Doch es wird sich schon kurz später nicht mehr daran erinnern, wie schlimm die Krämpfe waren, zumindest nicht bewusst.

Heile heile Segen? Lange Zeit wurden die Schmerzen von ganz kleinen Kindern nicht für voll genommen, weil die Beschwerden wenig greifbar waren und ohnehin dem Vergessen anheimzufallen schienen. Schon das Gehirn von Neugeborenen reagiert dabei heftig auf Schmerzreize, wie die Messung von Hirnströmen beweist. Psychologen der Universität Gießen konnten zudem belegen, dass erlittene Schmerzen vom kindlichen Gehirn nicht einfach gelöscht werden. Die Arbeitsgruppe um Christiane Hermann suchte anhand alter Krankenakten nach Kindern, die als Frühgeborene lange im Krankenhaus behandelt wurden oder im Kleinkindalter wegen Verbrennungen im Krankenhaus waren. Mit diesen Kindern machten sie verschiedene Tests, um die Reaktion der inzwischen Zehn- bis 14-Jährigen auf minimale Hautreize durch mechanische Berührung oder Hitze mit der von Gleichaltrigen ohne Krankengeschichte zu vergleichen.

Je früher Kinder Schmerzen erleben, umso schwerwiegender

Dabei stellte sich heraus, dass die Heranwachsenden mit leidvoller Krankenhaus-Erfahrung diese Schmerzreize vor allem dann intensiver erlebten als ihre Altersgenossen, wenn die Reizdauer etwas länger war. „Je früher Kinder Schmerzen durchmachen, desto schmerzempfindlicher scheinen sie später zu werden“, folgert Hermann.

Natürlich könnte es sein, dass der Vergleich hinkt. Schließlich liegt es nahe, dass Frühchen und Kinder, die einmal eine besorgniserregende Brandverletzung hatten, von ihren Eltern später mehr Aufmerksamkeit bekommen und eher „verzärtelt“ werden als andere Kinder. Bedingungen, die nicht optimal sind, wenn man lernen soll, mit aufgeschürften Knien oder einem gelegentlichen Magen-Darm-Infekt einigermaßen cool umzugehen. Das erklärt jedoch wohl nicht den gesamten Unterschied, und der Zusammenhang mit der leidvollen Geschichte ist plausibel.

Wie ganz kleine Kinder Schmerz in der Situation selbst erleben, darüber wissen die Forscher wenig. Befragen geht nicht, man muss sie folglich beobachten, so dachten sich die kanadischen Psychologen Ruth Grunau und Kenneth Craig von der Universität Vancouver. Sie filmten Mitte der 80er Jahre zu Forschungszwecken die Mimik von zwei Tage alten Säuglingen, während diese bei einer Routineuntersuchung mit einem Stich in die Ferse Blut abgenommen bekamen. Alle Babys reagierten auf den Einstich mit einem Zusammenziehen der Augenbrauen, festem Zusammenkneifen der Lider, weit geöffnetem Mund und eingerollter Zunge. Erst kurz danach begannen sie zu schreien. In der Zeitschrift „Pain“ erörterten die Forscher 1987 die Idee, aus diesen Merkmalen ein „Messinstrument“ für Schmerzen von Säuglingen zu entwickeln. Später dehnten sie ihre Untersuchungen auf Frühgeborene aus.

Frühgeborenen wurde eine ausreichende Narkose vorenthalten

Noch nicht 30 Jahre ist das her, und es kam einer Revolution gleich. Man mag es nicht glauben, doch zu dieser Zeit wurden Frühchen mit schweren Fehlbildungen, zum Beispiel im Verdauungstrakt, noch vielfach ohne eine Narkose operiert, die den Schmerz wirksam ausgeschaltet hätte. „Wenn man heute in der Neugeborenen-Medizin arbeitet, kann man sich über die frühere Meinung, dass Neugeborene noch keinen Schmerz empfinden, nur wundern“, sagt Frank Jochum, Kinderarzt im Evangelischen Waldkrankenhaus Berlin-Spandau.

Man könne es aber nachvollziehen, wenn man sich vor Augen führe, welche Strategien die Ärzte damals, in den Anfangszeiten der modernen Frühgeborenen-Intensivmedizin, hatten, um das Leben der Frühchen zu retten. Wegen der Gefahr von Hirnblutungen sollten sie ganz ruhig liegen, wegen ihrer unreifen Lungen wurden sie beatmet. Sie bekamen also Beruhigungsmittel, die auch die Muskeln erschlaffen ließen. So ist es kaum aufgefallen, wenn sie Schmerzen hatten. Zudem fürchtete man, ihnen mit Schmerzmitteln zu schaden. „Das alles erklärt vielleicht, wie man in eine solche Denkschiene kam.“

Inzwischen werden die Frühgeborenen anders behandelt. Sie werden nur noch bei besonderen Problemen betäubt und maschinell beatmet, und auch in Sachen Schmerz ist man klüger geworden. Babys, denen in den ersten Stunden nach der Geburt mehrmals Blut abgenommen wird, weil ihre Mütter unter Diabetes leiden, schneiden wenig später schon vor dem Pieks Grimassen, sobald die Einstichstelle zur Vorbereitung gereinigt wird. Das ergab 2002 eine Studie der Kanadierin Anna Taddio.

Streicheln und etwas Zuckerlösung lenken bei der Blutentnahme ab

Die Erkenntnisse über Schmerzempfindung und Schmerzgedächtnis bestimmen nicht nur das Vorgehen bei Operationen, sondern auch den Alltag auf den Kinderstationen, bis hin zu auf den ersten Blick banalen Kleinigkeiten. Kein Kind bekomme in seiner Klinik Blut abgenommen, ohne dass es durch Streicheln oder kleine Mengen spezieller Zuckerlösung abgelenkt würde, versichert Jochum. Bei größeren schmerzhaften Prozeduren werden auch den Kleinsten regelmäßig Medikamente gegen die Schmerzen gegeben.

Wenn nur Medikamente helfen, bleibt allerdings die Sorge um das kindliche Gehirn. Studien zeigen, dass eine Narkose Auswirkungen auf dessen sehr unreife Strukturen haben kann. „Wir sollten keine Ängste schüren, aber wir sollten Eingriffe, die nicht unmittelbar nötig sind, nach Möglichkeit verschieben“, folgert Jochum. „Nach dem dritten Lebensjahr sind sie für das Gehirn viel unproblematischer.“

Die Forschung zur Frage, welche Schmerzmittel die Babys besser oder schlechter vertragen und in welcher Dosierung sie sie bekommen dürfen, steckt immer noch in den Kinderschuhen. Schmerzmittel werden generell bei Kindern heute oft noch „off label“, ohne Zulassung für die Altersgruppe, eingesetzt. Studien mit Kindern sind schwierig, wichtige Erkenntnisse zur Sicherheit der Medikamente verdankt die Kinderheilkunde deshalb Untersuchungen mit Mäuse- oder Ratten-Jungen.

Forscher versuchen, Signale von Schmerz und Stress zu entschlüsseln

Um Feinheiten beim Erfassen des Unbehagens kleiner Menschenkinder machen sich derweil Forscher aus der Psychologie verdient. So baut die Gießener Arbeitsgruppe jetzt eine Videodatenbank mit Filmen auf, die bei der U2 gedreht wurden, der zweiten Säuglings-Untersuchung zwischen dem zweiten und dem zehnten Lebenstag. „Wir möchten auf diese Weise auch Kriterien entwickeln, um zwischen Schmerz und Stress unterscheiden zu können“, erklärt Hermann. Während ein Pieks beim Blutabnehmen oder Impfen kurz wehtut, ist es nicht mit Schmerzen verbunden, Fieber gemessen zu bekommen oder körperlich untersucht zu werden, es könnte das Baby aber ebenfalls in Unruhe versetzen.

Christiane Hermann wünscht sich, dass Pflegekräfte und Ärzte in Zukunft systematische Schulungen zum Thema kindlicher Schmerz und vor allem zu dessen Erfassung bekommen. Berufserfahrung allein reiche nicht, „sie kann sogar dazu führen, dass sich die Wahrnehmungsschwelle nach oben verschiebt“. Einen Hinweis darauf geben Befragungen von Pflegepersonal und Ärzten, bei denen Schreien als das wichtigste Signal genannt wurde, um bei einem Säugling Schmerz festzustellen. Schon im Jahr 1996 hatte Kenneth Craig dabei in der Zeitschrift „Pain“ einen Weg gewiesen, um es nicht zu einem solchen herzzerreißenden Weinen und Brüllen kommen zu lassen: „Wir schlagen vor“, hatte er damals geschrieben, „dass Verhaltensänderungen, die durch Schmerzen verursacht werden, als kindliche Form des Selbst-Berichts betrachtet werden.“

Ein Vorschlag, der sich im Prinzip auf das andere Ende des Lebens übertragen lässt: Auch bei alten Menschen mit einer Demenz wurde schließlich der Schmerz lange Zeit auf die leichte Schulter genommen, auch sie können ihm oft nicht sprachlich Ausdruck verleihen. Inzwischen wurden aber verschiedene Schmerz-Skalen entwickelt, mit denen sich ihre nonverbalen Äußerungen von körperlichem Unbehagen besser einschätzen lassen. Nur weil Schmerzen unsagbar sind, sollte keiner sie erdulden müssen.

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