Die Stimme des Physikers: Mit den Gedanken sprechen
Stephen Hawking testet eine Technik, die seine Hirnströme in Worte für den Sprachcomputer übersetzt. Nun werden in Cambridge die ersten Ergebnisse vorgestellt.
Fast wären sie sich nicht begegnet. Müde nach einem Tag voller Vorträge auf dem World Science Festival in New York wollte Philip Low eigentlich packen und nach Hause fliegen. Noch ein Empfang? Die Gästeliste klang verlockend. Sein Physik–Idol Stephen Hawking würde da sein. Er ging hin, die beiden Männer freundeten sich an. Der eine gilt weltweit als Physik-Star, der andere steht mit 32 Jahren und einem kleinen Start-up-Unternehmen in San Diego ganz am Anfang seiner Karriere.
Bescheidenheit kann man Philip Low trotzdem nicht nachsagen. Sein Unternehmen „NeuroVigil“ soll laut Webseite nicht weniger als die Analyse des Gehirns „revolutionieren“. Am Samstag will er auf einer von ihm selbst organisierten und gesponserten Konferenz in Cambridge verkünden, dass er einen Weg gefunden hat, wie Stephen Hawking weiter mit der Außenwelt kommunizieren kann, wenn seine Lähmung fortschreitet. „CNN und andere große Fernsehsender haben sich angekündigt“, sagt Low stolz. Und: „Die Arbeit mit Stephen ist pro bono. Wir verdienen daran nichts.“ Doch nebenbei ist es ein PR-Coup; seit Monaten berichten große amerikanische Zeitungen und Magazine über Philip Low und seinen berühmten Probanden.
Der Anlass ist ein ernster. Als Stephen Hawking 21 Jahre alt war, wurde bei ihm Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Das ist eine Erkrankung, die die Patienten immer mehr lähmt, bis auch Atmen und Schlucken unmöglich werden. Seine Ärzte sagten ihm, er würde wahrscheinlich nicht einmal 25 Jahre alt. Nun ist er 70, sitzt im Rollstuhl und braucht seit 1985 einen Computer, um sich zu verständigen. Zuerst bediente er ihn mit Handbewegungen. Heute hilft ihm ein Infrarotsensor an seiner Brille, der kleine Bewegungen seiner Wange abliest, um die Computerstimme zum Klingen zu bringen. „Cheek switch“ nennt er das, Wangenschalter. Aber er wird langsamer; die Krankheit nimmt keine Rücksicht darauf, wen sie trifft. Intel arbeitet deshalb an einem Gesichterkennungsprogramm, das selbst kleinste Bewegungen übersetzen kann. „Das ist nur eine Zwischenlösung“, sagt Low. „Stephen will sich auch dann weiter mitteilen, wenn er vollständig gelähmt ist.“ Und er, Low, habe die Technik, die das leisten kann.
Low spricht von „iBrain“, einem kabellosen Ein-Kanal-EEG, das er entwickelt hat. Ein etwa eurogroßer Sensor, der allein mit einer schwarzen Stoffhaube an seinem Platz auf der Stirn gehalten wird, überträgt dabei die Hirnströme des Probanden auf ein Handy. Von dort werden die Daten an NeuroVigil übertragen und dann von der Firma ausgewertet. Bei Hawking soll iBrain direkt mit seinem Computer vernetzt werden, so dass er weiter einen Cursor auf dem Bildschirm bewegen und so Wörter auswählen kann.
„Wir haben Stephen gesagt, er solle sich vorstellen, die Hand zur Faust zu ballen, den linken Fuß anzuheben oder auch zu winken. Dinge, die er eigentlich nicht mehr kann“, sagt Low. „Trotzdem konnten wir ohne Training jeweils ein sehr klares Muster in den Hirnströmen erkennen. Das kann man in Befehle für einen Cursor übersetzen.“ Der erste Schritt sei mit der Identifizierung solcher Signale getan, darum geht es auch in der Präsentation am Samstag. Die Vernetzung mit dem Computer soll folgen. Außerdem will Low in Zusammenarbeit mit einigen Universitäten, darunter Institutionen wie Johns Hopkins in Baltimore, eine Pilotstudie mit 60 ALS-Patienten und 60 Kontrollpersonen starten.
Den Algorithmus für iBrain hat Low während seiner 2007 abgeschlossenen Doktorarbeit am Salk-Insitute in San Diego erarbeitet und seitdem immer weiter verbessert. Zunächst nutzten ihn Low und andere Wissenschaftler, um den Schlaf von Zebrafinken zu analysieren. Die Ergebnisse wurden damals im Fachmagazin „PNAS“ veröffentlicht.
Direkt nach der Dissertation verschuldete er sich und gründete in unmittelbarer Nachbarschaft zum Salk-Institute seine Firma. iBrain könnte teure Schlaflabore ersetzen und ambulant die Reaktionen des Gehirns auf Medikamente überwachen, lautete die ursprüngliche Idee. Dahinter steckt eine persönliche Geschichte: An Lows zehntem Geburtstag wurde sein Vater verhaftet, weil er mit einer Waffe auf einen anderen Menschen losgegangen war. Die Aggressivität und Unberechenbarkeit jedoch waren Nebenwirkungen des Schlafmittels Halcion, das der Vater damals nahm. Er wurde letztlich für unschuldig befunden.
Low jedoch ließen Themen wie Schlaf, Gehirn und Nebenwirkungen von Medikamenten nicht mehr los. Heute hat er Kooperationsverträge mit einigen Pharmakonzernen, darunter dem Riesen Roche. An Unis wie Stanford wird getestet, ob iBrain die Hirnveränderungen bei Autisten aufspüren kann.
Sein Doktorvater Fred Gage – bekannt für den Nachweis, dass auch erwachsene Menschen noch neue Nervenzellen bilden – gehört zu seinen Fürsprechern. Auch der Nobelpreisträger Roger Guillemin lässt sich in Pressemitteilungen der Firma mit Lobeshymnen zitieren. Seinen Algorithmus ließ Low durch ein Patent schützen und will künftig iBrain für etwa 100 Dollar kommerziell vermarkten.
Low bietet den Medien alles, was man für eine gute Geschichte braucht: prominente Namen, Unternehmergeist, große Worte und persönliche Betroffenheit. Das Interesse ist entsprechend groß. Niels Birbaumer findet das eher ärgerlich. Der Neurowissenschaftler von der Uni Tübingen erforscht seit etwa 15 Jahren Gehirn-Computer-Schnittstellen. Seine Arbeitsgruppe war die erste, die 1999 im Fachmagazin „Nature“ ein EEG-System für Schwerstbehinderte vorstellte. „Alles Hype“, lautet sein vernichtendes Urteil über Lows Arbeit.
Ein-Kanal-EEGs seien längst nicht mehr neu. Für Menschen, die ihre Augen noch bewegen können, gebe es außerdem Systeme, die damit arbeiten. Patienten, die seit Jahren komplett im eigenen Körper gefangen sind (Locked-in-Syndrom), könne man trotzdem nicht erreichen. „Vermutlich ist die willentliche Steuerung dann nicht mehr möglich“, sagt Birbaumer. Sein Team arbeitet deshalb an einer Technik, die reflexartige Reaktionen auswertet. Für eine Veröffentlichung reichen bislang die Daten nicht. „Dazu muss man sich sehr sicher sein“, sagt Birbaumer. „Patienten und ihre Angehörigen greifen nach jedem Strohhalm.“ Im Laufe der Zeit sei er vor allem kommerziellen Angeboten gegenüber sehr misstrauisch geworden: „Da kursieren viele unseriöse Versprechen.“
An Low prallt solche Kritik ab. „Unsere Daten sprechen für sich“, sagt er. Doch bislang kann sie keiner einsehen. Was seit der Doktorarbeit fehlt, sind Publikationen und Vorträge auf Kongressen – die harte Währung der Wissenschaft. Für sein Start-up sei das nicht so wichtig wie das Patent gewesen, sagt Low. Erst jetzt reicht er erste Manuskripte bei Fachjournalen ein. „Als Firma müssen wir etwas bauen, das funktioniert.“
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