Neue Genmedizin: Mit Apps gegen kranke Zellen
Gentechnik ist out, sagt der Bioingenieur Ron Weiss. Er programmiert stattdessen Zellen mit Gen-Schaltkreisen: Diese können Lebergewebe bilden oder Krebszellen erkennen.
Als Ron Weiss 1994 seinen Abschluss am Massachusetts Institute of Technology machte, hätte er sich nicht träumen lassen, einmal ein neues Forschungsfeld mit zu begründen. Noch absurder wäre ihm die Vorstellung vorgekommen, dass das dann etwas mit Biologie zu tun haben würde. Denn Weiss ist Computerwissenschaftler. Dem Fach mit dem B ging er lieber aus dem Weg, es war ihm „zu chaotisch“. Dann begegnete er Tom Knight.
Der war auch Computeringenieur, hatte sich aber das Ziel gesetzt, lebende Systeme mit Ingenieurs- und Programmierprinzipien kontrollierbar zu machen. Seine Sicht war schlicht, dass der genetische Code auch nichts anderes ist als Software und Zellen so programmierbar sein müssten wie Computerchips. Heute gilt jene Zeit als Geburtsstunde der „Synthetischen Biologie“. Zellen werden hier nicht nur genetisch manipuliert, sondern mit komplett neu angelegten Erbgutbausteinen und neuen biologischen Programmen bestückt.
Weiss war begeistert. Es gelang ihm bald, biologische Schaltkreise zu entwickeln, um erst Bakterien und später Säugetierzellen zu programmieren. Sie funktionieren wie „Apps“, die ein Mobiltelefon befähigen, auch Musik abzuspielen oder mit ihm Flüge und Bahnverbindungen zu buchen. Weiss' Schaltkreise befehlen analog dazu Zellen, Lebergewebe zu bilden, Krebszellen zu erkennen und umzubringen oder die Wirksamkeit neuer Arzneien zu signalisieren. Vieles mehr dürfte möglich sein. Firmen werden gegründet und sammeln erfolgreich Risikokapital ein. „Das Feld explodiert gerade“, sagt Weiss. Am Freitag erscheint von ihm und einigen Kollegen im Fachmagazin „Science“ ein Artikel zu den Chancen, die Technik für Diagnose und Therapie abzuwenden.
Das biologische Software-Repertoire ist reif für die Anwendung
Darin zu lesen ist allerdings auch, dass vieles deutlich komplizierter ist, als es einem Ingenieurswissenschaftler lieb sein kann. „Wir müssen akzeptieren, dass Biologie komplex ist“, sagt Weiss auch gegenüber dem Tagesspiegel. In Sachen Komplexität bewegen sich seine zellulären Anwendungen denn auch zwischen dem, was in der Natur geschieht, und dem, was bislang mit klassischer Gentechnik möglich war: Während in einer menschlichen Zelle Tausende Erbanlagen aktiv sind und interagieren, bestehen jene Schaltkreise aus Sets von je drei bis 15 Genen.
In eine Zelle eingeschleust übernehmen sie ein Stück weit die Kontrolle. Das unterscheidet sie von bisherigen gentechnischen Veränderungen oder Gentherapien. Bei diesen werden meist nur ein oder sehr wenige Gene in Zellen gebracht und wird im Idealfall dann zum Beispiel kontinuierlich ein Protein produziert. „Ein Schaltkreis dagegen spürt, was im Inneren oder außerhalb der Zelle vor sich geht“, sagt Weiss. „Diese Information verarbeitet er wie ein kleiner Computer und macht daraufhin etwas mit der Zelle.“ Ein einfaches solches Programm liefe etwa so ab: Wenn Protein X die Konzentration Y überschreitet, schalte Gen Z ein!
Inzwischen ist das biologische Software-Repertoire reif für die Anwendung – etwa um das Aids-Virus HIV zu bekämpfen. Die Schaltkreise können erkennen, ob eine Zelle das Virus in sich trägt. „Aus der Perspektive der Computerlogik ist das sogar ziemlich einfach, weil es sich um ein Programm mit nur einem Input handelt.“ Der Schaltkreis muss lediglich erkennen, ob in einer Zelle ein bestimmtes Virusprotein vorkommt. Wenn ja, muss er das Selbstmordprogramm der Zelle auslösen oder das Immunsystem alarmieren. Ob das System reif ist, um daraus eine Therapie zu machen, untersucht Weiss gerade.
Bei komplexen Krankheiten sind Therapieerfolge bislang bescheiden
Um Krebs zu erkennen und zu bekämpfen, müssen die Schaltkreise allerdings deutlich komplexer sein. „Das erfordert mehrere Inputs, denn weil Krebs eine komplexe Krankheit ist, gibt es fast nie den einen Biomarker, das eine Molekül, anhand dessen wir Krebszellen erkennen können.“ Entsprechend bescheiden sind bisher die Erfolge von Therapien, die sich auf einzelne Biomarker verlassen. Manchmal führen sie zu schweren Nebenwirkungen, etwa wenn Immunzellen auf den Biomarker CD19 scharfgemacht werden. Er sitzt häufig auf der Oberfläche von Krebszellen, aber eben auch auf manchen gesunden, die dann auch zerstört werden. „Wir brauchen also mehrere Inputs für die präzise Diagnose, ob es sich um eine Krebszelle handelt“, sagt Weiss. Sechs solche „Inputs“, also etwa CD19 und noch fünf weitere krebstypische Strukturen, reichten dafür aus.
Die erste Gen-App, die zwischen gesunden und Krebszellen unterscheiden konnte, beschrieb Weiss' Team schon 2011 im Fachblatt „Science“. Der „Output“ war ein „Killer-Protein“. Der Schaltkreis sorgte dafür, dass die Zelle es in hoher Konzentration produzierte. Anfangs machte er allerdings häufig Fehler. An Versuche mit Patienten war deshalb nicht zu denken. Inzwischen hat Weiss’ Team die Fehlerrate auf eins in einer Milliarde Entscheidungen gedrückt. „Jetzt sind wir bereit für klinische Tests.“
In die Zelle gelangt der Schaltkreis mithilfe des Herpes-simplex-Virus (HSV). Dort analysiert er, ob er sich eventuell in einer Brust- oder auch Hautkrebszelle befindet. Wenn die Antwort Ja ist, aktiviert die App das Virus. Es vermehrt sich, zerstört die Zelle, die vermehrten Viren werden frei und befallen die Nachbarzellen. In Mäusen habe sich das System bereits bewährt, sagt Weiss. Die Viren verteilen sich überall im Körper, aber nur die Tumorzellen werden zerstört.
Genetische Informationen in den Schaltkreisen
Je komplexer die Aufgabe, desto mehr genetische Information muss Weiss in die Schaltkreise einbauen. So wie aufwendige Apps auf dem Handy mehr Speicherplatz benötigen, wachsen auch Gen-Apps mit ihren Aufgaben. Die erste Krebs-App war 5000 DNS-Bausteine groß, die jetzige Version zählt 40 000. Nicht viele Viren können so viel Genmaterial in Zellen schleusen. HSV etwa schafft maximal 150 000. Es ist absehbar, dass die Gen-Apps bald zu groß sein werden.
Ebenfalls analog zu Computerprogrammen versucht man es mit Komprimierung. Pionier auf dem Gebiet ist Yaakov Benenson von der ETH in Basel. Er hat ein Werkzeug entwickelt, mit dem große Gen-Apps ohne Funktionsverlust auf das Wesentliche reduziert werden können.
So sehr sich die Schaltkreise von klassischer Gentechnik unterscheiden, eines haben beide bislang gemein. Es ist eine altbekannte Hürde auf dem Weg in die medizinische Anwendbarkeit: Egal, ob ein einzelnes Gen oder ein ganzer Schaltkreis in die Zelle gebracht werden muss, beides ist alles andere als einfach und fehlersicher. Am besten funktioniert es bei Blutzellen. Denn die kann man Patienten entnehmen, im Labor mit den Apps versehen und vor dem Zurückspritzen genau testen. „Mit diesem Ansatz kann man relativ große Erbgutportionen in Zellen transferieren und dann diejenigen auswählen und vermehren, bei denen das Verfahren funktioniert hat“, sagt Benenson. Unvergleichlich schwieriger ist es, andere Zellen gezielt und sicher zu erreichen.
So einfach wie eine Anwendung auf dem Smartphone - das dauert
Eine wichtige Frage ist auch, ob die App permanent in das Erbgut eingebaut werden oder separat davon in der Zelle herumschwimmen soll. Letzteres bedeutet, dass sie nach einigen Zellteilungen verloren geht. Doch gerade das wäre für Zulassungsbehörden wahrscheinlich ein Argument für ein rascheres O. K. Denn wenn die App permanent im Erbgut eines Patienten bleibt, dann müssten auch Langzeitwirkungen überprüft werden – was lange dauern und viel kosten würde. Wenn sie auch funktioniert, ohne in ein Chromosom eingebaut zu werden, bräuchte es auch keine DNS als Trägermaterial. RNS, auf der ebenfalls genetische Informationen codiert werden kann, wäre dann eine Option. Das „würde garantieren, dass der Schaltkreis nicht permanent aktiv bleibt, weil die Lebensdauer von RNS in der Zelle begrenzt ist“, sagt Benenson. Doch ihr Problem sei laut Weiss, „dass sie ständig in Protein übersetzt wird und es keine Kontrollmöglichkeit darüber gibt“. Was man also bräuchte, wäre wieder ein spezieller Schaltkreis. Der müsste etwa dafür sorgen, dass die RNS nur für eine bestimmte Zeit in Protein übersetzt wird, oder nur in einem bestimmten Zelltyp, oder bis ein bestimmter Effekt eintritt.
Es sind also noch viele technische Probleme zu lösen, bis Gen-Apps so einfach wie eine Anwendung auf einem Smartphone funktionieren. Doch wie so oft bei neuen Technologien eröffnen sich auch Möglichkeiten jenseits dessen, was man als Ingenieur ursprünglich vorhatte. So nutzt Weiss die Apps, um Zellen in bestimmte Gewebetypen zu verwandeln. Er braucht dafür, anders als Biologen bisher, keine Signalstoffe auf die Zellen zu geben. Denn die Schaltkreise könnten das Entwicklungsprogramm im Erbgut der Zellen in eine bestimmte Entwicklungsrichtung „schubsen“, sagt Weiss. Stammzellen hat er so dazu gebracht, letztendlich Blutgefäßstrukturen, leberartiges Gewebe und hirnähnliche Nervenzellansammlungen zu bilden.
Eine App-generierte Mini-Leber
„Synthetische Morphogenese“ nennt Weiss das. Die Programme laufen allerdings bislang nicht immer so ganz programmgemäß ab. Weiss versuchte etwa, Gewebe in seinen Petrischalen in Richtung insulinproduzierende Beta-Zellen zu „schubsen“. Doch statt der Beta-Zellen, die bei Zuckerkranken ausfallen, entstand Lebergewebe.
Aber auch diese Schlappe erwies sich als nutzbar. Denn die App-generierte Mini-Leber enthielt alle bekannten Zelltypen, die für eine Leber nötig sind. Und außerdem wuchs sie in einer dreidimensionalen Zellkultur zum größten Stück Lebergewebe heran, das je außerhalb eines Organismus gezüchtet wurde. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es auch von echten Blutgefäßen durchzogen ist, die es mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen und die sich sonst kaum in Gewebekulturen bilden. Weiss will bei Mäusen versuchen, ob man solche Gebilde transplantieren kann und diese dann zu funktionstüchtigen Lebern werden.
Jenseits dieser Projekte, die, wenn es überhaupt klappt, noch Jahre oder Jahrzehnte bis zu praktischer Anwendung bei Menschen brauchen werden, gibt es längst unmittelbar nutzbare Gen-Apps. So ist jenes Lebergewebe ideal für das Testen von Medikamenten. Es sollte „viel besser vorhersagen, was ein Medikamentenkandidat tut, als ein Mausexperiment“, sagt Weiss. Dass Tierversuche so eingespart werden könnten, wäre ein willkommener Nebeneffekt.
Eine "Menge cooler Dinge" für Zellen
Außerdem könne man die Zellen mit einer „Menge cooler Dinge“ ausstatten, etwa Sensor-Schaltkreisen, die in Echtzeit die Reaktionen der Zellen auf eine Arznei melden. Als Reporter am Ort des Geschehens könnten sie Pharmafirmen Informationen über die Wirkungsweise, aber auch Nebenwirkungen verschaffen. Das verkürze den Entwicklungsprozess für Medikamente und reduziere die Anzahl der nötigen Analysen, sagt Benenson. Er hat, so sagt er, seine Apps bereits patentieren lassen und sei mit Pharmafirmen im Gespräch über deren Nutzung.
Die Technik steht insgesamt erst am Anfang. Und Weiss hat jede Menge weiterer Ideen. Eine „Super-Leber“ mit besseren Stoffwechsel-Eigenschaften ist nur eine davon. Das Ende der Möglichkeiten ist nicht abzusehen. Die möglichen praktischen und ethischen Konsequenzen sind es allerdings auch nicht.
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