Wissen: Meister der Langstrecke
Libellen und Schildkröten, Vögel und Fledermäuse: Viele Tiere legen lange Wege zurück. Mit Minisendern ergründen Forscher nun ihre Geheimnisse.
Bergsteiger staunen gewaltig, wenn sie bei der Gipfelrast auf einem Achttausender im Himalaya über Fels und Eis Streifengänse fliegen sehen. Menschen überleben ohne zusätzlichen Sauerstoff in der dünnen Luft dort oben nicht lange. Die knapp drei Kilogramm schweren Vögel aber fliegen auf dem Weg von ihren Brutgebieten auf den Hochebenen Zentralasiens in ihr Überwinterungsgebiet in Indien scheinbar mühelos über den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest. Dabei ist ein Flug in 9000 Metern Höhe, in der jeder Atemzug verglichen mit Meeresniveau nur noch ein Drittel des Sauerstoffs in die Lungen pumpt, eine kraftraubende Höchstleistung.
Inzwischen wissen Forscher: Auch wenn es einige Augenzeugen für diese fantastische Flugleistung gibt, ist diese Route nicht die Regel, sondern eine sehr seltene Ausnahme. „Fast immer überqueren Streifengänse den Himalaya über die niedrigsten Pässe“, berichtet Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell. Die Vögel nehmen also den bequemsten Weg, immer noch mehr als 5500 Meter über dem Meeresspiegel. Den modernen Mythos konnten Wikelski und seine Kollegen erst entlarven, als sie den Streifengänsen kleine Sender anhefteten, die ihnen kontinuierlich den Aufenthaltsort mitteilten. „Für fast alle Tierwanderungen gilt das Gleiche“, erklärt der Biologe. „Es gibt zwar viele Theorien, die Forscher bis vor einigen Jahren aber kaum überprüfen konnten, weil die technischen Möglichkeiten fehlten.“
Menschen beobachteten schon vor Jahrtausenden, dass sich in Mitteleuropa im August Schwalben zu großen Gruppen sammeln. Ein paar Tage später waren die Vögel dann verschwunden. Im Herbst zogen große Schwärme von Gänsen und Kranichen über die Ostseeküste. Auch die Massai beobachteten in den Savannen Afrikas riesige Herden von Gnus und Zebras bei ihren Wanderungen. Weil aber niemand wusste, weshalb diese Tiere sich auf die Reise machten und wo sie hinführte, entstanden Mythen, die das Kommen und Gehen der Tiere in verschiedenen Jahreszeiten erklären sollten. Viele können Forscher erst heute überprüfen.
Wikelski ist Spezialist für Tierwanderungen. Mit modernsten Minisendern geht er kaum untermauerten Überlegungen zu Wanderwegen und Flugleistungen auf den Grund. Häufig entwickeln Elektro-Ingenieure winzige Apparate speziell für neue Experimente, die der Forscher sich ausgedacht hat. Zum Beispiel bei Hummeln. Um ihre Wanderungen zu verfolgen, hat Wikelski die Insekten mit einem 0,2 Gramm leichten Super-Mini-Sender ausgerüstet. Eine so ausgestattete Hummel summte dann 2010 während der Obstblüte am Bodensee gleich einige Kilometer weit zu den leckersten Nektarquellen. Und der Biologe hatte eine weitere Tierwanderung aufgedeckt. Vorher hatte niemand vermutet, dass derart kleine Lebewesen so weit unterwegs sind.
Überhaupt scheinen Tiere so rastlos zu sein wie der Mensch. Lachse, Aale, Haie, Wale, etliche andere Säugetiere bis hin zu Fledermäusen, aber auch Vögel, Insekten, Krebse und Reptilien machen sich in bestimmten Jahreszeiten oder vielleicht auch nur einmal in ihrem Leben auf den Weg. Und das aus unterschiedlichen Gründen.
Einer der häufigsten ist die Suche nach Nahrung. Wikelski hat vor kurzem die Riesenschildkröten auf den Galapagos-Inseln Santa Cruz und Isabela mit Sendern ausgerüstet: „Die Tiere legen Entfernungen von zehn Kilometern zurück und überwinden an den Hängen der Vulkane mehr als tausend Meter Höhendifferenz“, fasst der Forscher das Ergebnis zusammen. Da es in den tieferen Regionen der Galapagos-Inseln Regenzeiten gibt, in denen die Vegetation üppig sprießt, und die Schildkröten genau dann Richtung Küste wandern, liegt ein Zusammenhang mit der Nahrung nahe. Welches Futter die Tiere aber tatsächlich suchen, müssen die Forscher noch untersuchen.
Auch die aktuellen Weltrekordhalter im Langstreckenflug ziehen der Nahrung hinterher. Küstenseeschwalben brüten im Sommer fast überall auf der Nordhalbkugel der Erde von der Ostseeküste bis hinauf in den Norden Grönlands, überwintern aber weit im Süden auf den Inseln im Südpolarmeer. Ornithologen schließen das aus Vögeln, denen sie kleine Ringe aus Metall oder Plastik um die Beine legen. Wird eine Küstenseeschwalbe also auf Grönland beim Brüten beobachtet und dort beringt, taucht aber später vor der Antarktis wieder auf, pendelt das Tier offensichtlich zwischen beiden Regionen. In der Theorie sollten diese gerade einmal hundert Gramm schweren Vögel daher jedes Jahr mindestens 30 000 Kilometer weit fliegen.
Was die Vögel aber zwischen beiden Gebieten machen und welche Flugrouten sie wählen, verraten die Ringe nur selten. Carsten Egevang vom Greenland Institute of National Resources in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, und seine Kollegen rüsteten daher elf Küstenseeschwalben mit jeweils 1,4 Gramm schweren Loggern aus. Diese „Fahrtenschreiber“ zeichnen die Länge eines jeden Tages auf. Nach der Rückkehr in das Brutgebiet befreien die Forscher die Vögel von den Loggern und ermitteln aus den jeweiligen Tageslängen den Aufenthaltsort des Tieres auf rund 200 Kilometer genau. 2010 veröffentlichten sie dann in der Zeitschrift PNAS das verblüffende Ergebnis: Die kleinen Vögel übertreffen die theoretische Flugweite, einige Küstenseeschwalben sind mehr als 80 000 Kilometer im Jahr unterwegs. Geschickt wählen die Tiere ihre Routen so, dass möglichst häufig Rückenwind sie anschiebt und Gegenwind nur selten bremst. Dabei reisen sie fast immer über dem Wasser, lange Strecken fliegen sie zum Beispiel über dem Atlantik und Pazifik Tausende von Kilometern von der nächsten Küste entfernt.
Obendrein entdeckten die Forscher mithilfe von Satellitendaten auch bisher unbekannte Rastplätze der Küstenseeschwalben. Dort gibt es immer klares Wasser, in dem viele kleine Fische schwimmen. Normalerweise fliegen die Vögel einige Meter über den Wellen und schauen von dort mit scharfen Augen ins Meer. Erspähen sie eine mögliche Beute, legen sie die Flügel ein wenig an, kippen ab und stoßen im Sturzflug im steilen Winkel durch die Wasseroberfläche. Diese Technik müssen die jungen Vögel mühsam lernen, es dauert einige Zeit, bis sie ab und zu einen Fisch erwischen.
Die Jagdmethode funktioniert nur am hellen Tag, weil die Küstenseeschwalbe ihre Beute sehen muss. Das erklärt auch die langen Wanderungen der Tiere. Die kalten Gewässer im hohen Norden und im tiefen Süden enthalten viele Nährstoffe und wimmeln daher vor Fischen, sind aber meist sehr klar. Im Sommer sind die Nächte dort kurz und die Küstenseeschwalben haben genug Zeit für ihre schwierige Jagd. Im Winter aber gibt es nur wenige Stunden Tageslicht, weiter im Norden geht die Sonne in der Polarnacht überhaupt nicht auf, die Küstenseeschwalben müssten hungern. In der gleichen Zeit aber sind die Tage im Südsommer vor der Antarktis besonders lang und die klaren Gewässer wimmeln vor Fischen. Da ist es anscheinend günstiger, den langen Flug in den tiefen Süden mit seinen guten Jagdrevieren zu wagen.
Ähnliches gilt für die Amerikanischen Königslibellen an der Nordostküste der USA, die tausende Kilometer bis hinunter nach Florida fliegen. „Sie suchen wohl Gebiete, in denen ihre Larven genug Nahrung finden“, vermutet Wikelski, der auch diese Tiere mit Minisendern ausgerüstet hat. Inzwischen hat der Biologe am Sylvenstein-Stausee in Bayern selbst die kleinen Distelfalter mit winzigen Sendern ausgestattet. Diese Schmetterlinge fliegen manchmal sogar über die Alpen und zählen damit ebenfalls zu den Weitwanderern unter den Tieren.
Lange Strecken wandern auch Flattertiere, erklärt Christian Voigt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin: „Palmenflughunde leben im tropischen Regenwald in Afrika, ziehen aber etliche tausend Kilometer weit in die Sahelzone im Norden und bis nach Sambia im Süden des Kontinents, wenn dort bestimmte Früchte massenhaft reifen.“
Aus ganz anderen Gründen wandern auch in Europa Fledermäuse. Anders als Vögel können diese Säugetiere ja Winterschlaf halten und überstehen so die kalte Jahreszeit, in der kaum Insekten unterwegs sind, von denen sie sich ernähren. Überwintern die Tiere in Höhlen und Hausruinen, ist es dort zwar kalt, strenger Frost aber dringt kaum bis zu ihnen vor. Anders ist die Situation für die Schläfer in Baumhöhlen, sie könnten in den eisigen Winternächten Skandinaviens oder des europäischen Nordostens erfrieren. „Aus diesem Grund ziehen Rauhautfledermäuse aus dem Baltikum und Russland 2000 Kilometer weit bis in den Bodenseeraum oder nach Frankreich,“ vermutet IZW-Forscher Christian Voigt.
Einen ganz anderen Grund für solche Wanderungen schlagen Meeresbiologen für Buckelwale vor. Viele dieser Tiere leben in den kalten Gewässern vor Alaska. Von dort aber schwimmen Weibchen in einem guten Monat mehr als 5000 Kilometer weit bis vor die Küsten Hawaiis, um dort ihre Kälber zu bekommen. Dort finden sie zwar keine Nahrung und fasten. Aber die in kalten Gewässern häufigen Orcas, für die neugeborene Buckelwal-Kälber ein gefundenes Fressen sind, tauchen vor Hawaii fast nie auf. Manche Tiere ziehen nicht, sie fliehen.
Auch andere Arten weichen so ihren Feinden aus – gehen dabei aber andere Risiken ein. So kann ein Buckelwalweibchen auf seinem Weg nach Hawaii bis zu ein Drittel seines Körpergewichts verlieren. Auch die Monarchfalter trotzen erheblichen Risiken, wenn sie auf den fünf Zentimeter langen Flügeln von ihren Sommergebieten in Nordamerika zur Sierra Nevada in Mexiko aufbrechen. Geschickt nutzen sie die Winde oft auch in mehr als hundert Meter Höhe aus, um jeden Tag rund 50 Kilometer nach Süden zu fliegen. Am Abend sammeln sich die Falter dann an Rastplätzen, ertrinken dabei aber zu Tausenden in Gewässern oder werden von Autos zerquetscht. Die Überlebenden setzen sich in Mexiko auf windgeschützte Stellen der Rinde von Baumstämmen, um den kalten Winterstürmen nicht direkt ausgesetzt zu sein.
Die Kosten einer Wanderung, von Gewichtsverlust bis Tod, sollten den Nutzen nicht überwiegen. „Als wir 30 junge Weißstörche in Spanien mit Sendern ausgerüstet haben, starben 28 von ihnen während ihrer ersten beiden Lebensjahre in Afrika“, erklärt Wikelski. Von gefährlichen Stromleitungen bis zu Jägern auf der Suche nach einem Sonntagsbraten lauern unterwegs einige Gefahren. Um solche „Flugkosten“ abzuschätzen, müssen aber erst einmal die Routen mit allen Gefahren bekannt sein. Solche Kosten-Nutzen-Analysen aber gibt es bisher für kaum eine Tierwanderung. Zukünftige Forschungsergebnisse werden so manche heutige Theorie wohl wieder über den Haufen werfen, glaubt Wikelski: „Immer wenn wir Tiere mit Sendern in der Natur verfolgen, erhalten wir überraschende Ergebnisse, die unseren ursprünglichen Überlegungen widersprechen.“
Der Zug der Vögel und die Wanderung der Lachse sind allgemein bekannt. Aber mit moderner Technik entdecken Forscher immer mehr Arten, die ähnlich rastlos sind. So wandern auch Fledermäuse, Schildkröten und Libellen.
Es gibt verschiedene Gründe, warum Tiere lange und gefährliche Reisen auf sich nehmen: Zum Beispiel, um Nahrung zu finden, Nachwuchs zur Welt zu bringen oder vor dem Winter zu fliehen.
Zur Orientierung nutzen viele Tierarten Landmarken wie Bahngleise oder Stromleitungen. Viele Vögel orientieren sich aber auch am Magnetfeld der Erde.
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