Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren: Mehr Zeit für Westschüler
Rolle zurück statt Ruck: Zunehmend verabschieden sich die alten Bundesländer von der verkürzten Schulzeit. In Ostdeutschland kommen Schüler und Lehrer aber gut zurecht.
Weniger Druck, weniger Stress, mehr Zeit für die Schüler: Mit diesen Argumenten begründet Frauke Heiligenstadt (SPD), Kultusministerin in Niedersachsen, warum nun auch ihr Bundesland wieder vom Abitur nach acht Jahren (G8) abrücken will. Vom Sommer 2015 an sollen die Gymnasien in Niedersachsen die Möglichkeit bekommen, wieder zum neunjährigen Bildungsgang (G9) zurückzukehren. Man wolle weg vom „Dauerstress“ in den Klassen sieben bis neun, sagte Heiligenstadt der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Die Tür zum G9 stehe offen.
Es könnte der Anfang vom kompletten Ende des G8 in Niedersachsen sein. Noch aber wartet die rot-grüne Landesregierung auf den Bericht einer Expertenkommission zur Reform des G8, der im Frühjahr vorgestellt werden soll. Alle Optionen seien denkbar, heißt es aus Hannover – auch die komplette Rückkehr zum Abitur nach 13 Schuljahren.
Mit Niedersachsen beginnt ein weiteres Bundesland mit der Rückabwicklung einer Reform, die von vielen als „Turboabitur“ gescholten wird. Erst vor wenigen Tagen hieß es aus Bayern, die CSU-Regierung arbeite an einem eigenen Konzept zur Rückkehr zum G9. Im Freistaat steht außerdem ein Volksbegehren bevor, das die Freien Wählern initiiert haben. Sie wollen das neunjährige Gymnasium als Alternative zum G8 wieder einführen; die erste Hürde für das Volksbegehren ist bereits genommen.
Die Nachrichten aus Niedersachsen und Bayern passen ins bundesweite Bild. Während noch nicht einmal überall die ersten G8-Jahrgänge ihr Abitur haben, rudern einige Bundesländer längst wieder zurück. Denn seit der Einführung hagelt es von vielen Seiten Kritik gegen die verkürzte Schulzeit. Vor allem die Eltern in den westdeutschen Flächenstaaten laufen Sturm gegen G8. Sie beklagen lange Schultage, ein kaum zu bewältigendes Lernpensum und immensen Leistungsdruck. Lehrer und einige Bildungsforscher kritisieren, die Reform sei überstürzt eingeführt, die Lehrpläne nicht entsprechend entrümpelt worden. Die Debatte ist aufgeheizt und emotional, von „gestohlener Kindheit“ ist bei vielen Eltern die Rede.
Ruck-Rede von Bundespräsident Herzog löste Reformen aus
Mit einem ganz ähnlichen Argument hatte einst Bundespräsident Roman Herzog argumentiert – allerdings für die Verkürzung der Gymnasialzeit. In seiner Rede vom „Ruck“, der durch Deutschland gehen müsse, wies er 1997 auf das hohe Alter der Schul- und Hochschulabsolventen hin, daraus ergäben sich Nachteile im internationalen Wettbewerb. Die lange Schulzeit, sagte Herzog, sei für ihn „gestohlene Lebenszeit“.
Das Argument stieß damals in der Politik auf offene Ohren. In der Folge verkürzten alle Bundesländer die Zeit bis zum Abitur an den Gymnasien auf zwölf Schuljahre. Das Saarland war das erste westdeutsche Land, das zum Schuljahr 2001/02 die Gymnasialzeit reformierte. Einzig Rheinland-Pfalz, wo das Gymnasium traditionell nur 12,5 Jahre dauert, ging einen Sonderweg und führte G8 nicht flächendeckend, sondern nur an einzelnen Ganztagsgymnasien ein.
Doch die Kritik ist in den vergangenen Jahren immer lauter geworden. In mehreren Ländern haben Eltern Initiativen für die Rückkehr zum G9 gestartet. Wie in Bayern konnte auch in Hamburg eine Volksinitiative die für ein Volksbegehren nötigen Unterschriften sammeln. Ende Februar will die Bürgerschaft über den Termin für die Abstimmung entscheiden.
Viele Ländern sind schon teilweise zu G9 zurückgekehrt
Doch vielerorts werden die Landespolitiker auch so aktiv. Nordrhein-Westfalen hat schon 2011 einen Schulversuch begonnen, in dessen Rahmen 13 Gymnasien wieder das Abitur nach neun Jahren anbieten dürfen. Eine flächendeckende Rückkehr zum G8 lehnt die grüne Bildungsministerin Sylvia Löhrmann jedoch ab. 2012 startete Baden-Württemberg einen Schulversuch zur Verlängerung der Gymnasialzeit, an dem inzwischen 44 Schulen teilnehmen. Auch in Schleswig-Holstein sind einige Gymnasien zum G9 zurückgekehrt. Bayern reagierte mit der Einführung eines Flexibilisierungsjahrs auf die Proteste, einer Art freiwilligem Sitzenbleiben in der Mittelstufe.
Am weitesten ist bisher Hessen gegangen. Dort haben die Gymnasien seit dem laufenden Schuljahr prinzipiell die Wahl, ob sie als G8 oder G9 arbeiten wollen. An einigen Schulen läuft außerdem ein Versuch mit parallelen Zügen. Etwa die Hälfte der Gymnasien ist laut Kultusministerium schon zum G9 zurückgekehrt, weitere folgen zum nächsten Schuljahr. Die spektakuläre Kehrtwende in der Schulpolitik hatte CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier im Sommer 2012 persönlich initiiert. Wie jetzt bekannt wurde, will die neue schwarz-grüne Koalition noch weiter gehen und das Schulgesetz so ändern, dass auch laufende fünfte, sechste und eventuell siebte Klassen noch zum G9 wechseln können.
Wer mehr Zeit zum Lernen braucht, hat heute schon Wahlfreiheit
Bildungsforscher Horst Weishaupt hat für diese Rolle rückwärts wenig Verständnis. „Es ist relativ fatal, dass die Politik jetzt auf die Widerstände gegen das G8 eingeht“, sagt der Experte am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. „Dafür gibt es keine belastbare Grundlage.“ Stattdessen gebe es nach wie vor gute Argumente für das Abitur nach zwölf Schuljahren – etwa den demografischen Wandel, der die Nachfrage nach jüngeren Absolventen noch verstärken werde.
Über den Erfolg oder Misserfolg des verkürzten Gymnasiums gibt es bislang wenige Daten. In der von Ulrich Vieluf geleiteten Hamburger Leistungsstudie „Kess“ schnitten G8- und G9-Abiturienten gleich gut ab. Ein Vergleich der Abiturdurchschnittsnoten ergibt ebenfalls ein relatives Gleichgewicht. In Baden-Württemberg etwa lag 2012 der Notenschnitt in beiden Gruppen exakt gleich bei 2,4. In Bayern hatten die G8-Abiturienten im Doppeljahrgang 2011 sogar den etwas besseren Schnitt; allerdings ist im Freistaat mit dem G8 die Durchfallquote deutlich angestiegen.
Manche Schüler brauchen mehr Zeit zum Lernen: Dieser Beobachtung stimmt auch Horst Weishaupt zu und befürwortet die Wahlfreiheit. Doch müsse man sich nicht von G8 verabschieden, es gebe bereits fast überall Alternativen. In Berlin etwa können Schüler an Sekundarschulen und beruflichen Oberschulen nach 13 Jahren Abitur machen. In Hamburg bieten die Stadtteilschulen diese Möglichkeit, in Baden-Württemberg die Gemeinschaftsschulen, in Hessen und Nordrhein-Westfalen die integrierten Gesamtschulen, in Bremen die Oberschulen.
In Ostdeutschland hört man kaum Klagen über zu viel Stress
Dass das achtjährige Gymnasium weitgehend reibungslos funktionieren kann, zeigt ein Blick in die ostdeutschen Länder. Von dort hört man kaum Klagen über Leistungsdruck und Lernstress. Zu DDR-Zeiten war das Abitur nach zwölf Jahren üblich. Nach der Wende hielten Sachsen und Thüringen daran fest, die anderen Länder stellten zunächst auf das westdeutsche Modell um. Die Kultusministerkonferenz legte damals fest: Bis zum Abitur muss jeder Gymnasiast 265 Wochenstunden Unterricht absolviert haben. Folglich stockten Sachsen und Thüringen ihre Stundentafel auf, um das Pensum in zwölf Jahren zu schaffen.Gemeinsam mit Kollegen hat Horst Weishaupt Ende der 90er Jahre in Sachsen, Thüringen und Bayern untersucht, ob das achtjährige Gymnasium für Schüler und Lehrer belastender ist als das neunjährige.
„Die Schüler im G8 hatten schon eine relativ hohe Belastung“, sagt Weishaupt. „Aber die haben sie auch angenommen.“ Die Bildungsforscher haben beobachtet, dass Schüler in Thüringen die Schule ernster nehmen als Schüler in Bayern. Mit beeindruckender Konstanz hätten die Schulen in Sachsen und Thüringen an ihrem Weg festgehalten und sich dabei trotzdem auf die neuen Anforderungen eingestellt.
"Übergangsprobleme durchstehen, statt zurückzurudern"
Was machen die Gymnasien im Osten besser? Der Hauptunterschied, sagt Weishaupt, habe in der Haltung der Pädagogen gelegen: „Für die ostdeutschen Lehrer gehörten Fördern und Fordern viel enger zusammen.“ Darin könnte seiner Ansicht nach einer der Gründe für die Schwierigkeiten vieler westdeutscher Gymnasiallehrer bei der Umstellung auf G8 liegen – weil plötzlich mehr Schüler in der Klasse seien, die gefördert werden müssen.
Weishaupt bestreitet nicht, dass es Schwierigkeiten bei der bisherigen Umsetzung des G8 gegeben hat. „Aber viele Probleme sind Übergangsprobleme, die man durchstehen sollte, statt jetzt zurückzurudern.“ Den Ärger vieler Pädagogen kann er dennoch verstehen. „Man hätte die Lehrer mehr mitnehmen sollen.“ In der Industrie gehe man davon aus, dass Veränderungen sieben Jahre brauchen, bis sie etabliert sind. „In der Bildungspolitik dagegen denkt man: Wir machen einfach ein neues Gesetz, und fertig.“