Experten uneins beim Umgang mit Corona: Mehr Offenheit oder schärfere Einschränkung für alle?
Ärzte und Forscher legen zwei grundverschiedene Aufrufe zum Umgang mit Corona vor. Sie zeigen auch, welchen Spagat die Politik derzeit leisten muss.
Der Auftrag an die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten an diesem Mittwoch ist klar: Die exponentielle Zunahme der Corona-Infizierten soll verlangsamt und eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden. Doch wie genau dieses Ziel am besten erreicht werden kann, darüber gibt es auch außerhalb der Politik weitaus heterogenere Auffassungen als noch im Frühjahr. Exemplarisch dafür stehen zwei medizinisch-wissenschaftliche Positionspapiere, die in ihrer Ausrichtung unterschiedlicher nicht sein könnten.
So fordern ärztliche Berufsverbände in einem gemeinsamen Positionspapier einen generellen Strategiewechsel in der Corona-Politik. Es trägt den "Titel Evidenz- und Erfahrungsgewinn im weiteren Management der Covid-19-Pandemie berücksichtigen" und geht auf die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KVB) und die beiden Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit zurück. Dem Vernehmen nach wird es auch unter anderem von den Akkreditierten Laboren in der Medizin, dem Spitzenverband Fachärzte Deutschlands und dem Virchowbund unterstützt.
Die Autoren des Papiers, das am Mittwochvormittag vorgestellt wurde, fordern dazu auf, den Rückgang der Fallzahlen "nicht um jeden Preis" erreichen zu wollen. Sie sprechen sich für eine "Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung" sowie für die Einführung eines bundesweit einheitlichen Ampelsystems aus.
So solle "kurzfristig Auskunft über die Gefährdungslage von Risikogruppen mit möglichen schweren Krankheitsverläufe" gegeben werden und "frühzeitig auf eine Überlastung des Gesundheitswesens durch Covid-19" hingewiesen werden können. Der Rückgang der Fallzahlen sei politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis, heißt es in der Erklärung.
Strategie der "Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung"
Auch nach der potenziellen Zulassung eines Impfstoffes werde das Virus die Gesellschaft die nächsten Jahre begleiten, so die Prognose der KVB. Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sollten daher so gewählt werden, dass sie schwere Verläufe wirksam vermindern und vulnerable Gruppen schützen, ohne dabei neue Schäden zu verursachen.
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Die Autoren setzen sich für eine Strategie der "Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung" ein und wenden sich auch gegen Ausgangssperren oder die Einführung eines erneuten Lockdowns.
"Gesellschaftlich und infektionsepidemiologisch" sei es "besser, wenn Menschen sich in öffentlichen Räumen mit Hygienekonzepten unter optimalen Bedingungen treffen, als dass sich die sozialen Begegnungen in vergleichsweise weniger sichere private Innenräume verlagern", befinden die Autoren. Sie unterstützen daher "Initiativen, die unter klar definierten Hygienekonzepten und Teststrategien Veranstaltungen zulassen".
Das Robert Koch-Institut meldete für diesen Mittwoch einen Rekordwert von fast 15.000 registrierten Neuinfektionen in Deutschland. Am Mittwoch vor einer Woche hatte die Zahl noch bei 7595 gelegen. Angesicht der steigenden Corona-Fallzahlen und einer höheren Belegung der Intensivbetten in der Krankenhäusern waren die Corona-Maßnahmen in allen Bundesländern zuletzt bereits wieder verschärft worden. Allerdings zeigt sich die Auswirkung derartiger Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen immer erst in einem gewissen zeitlichen Abstand.
Vor dem Hintergrund dieser Lage legte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina bereits am Dienstag ein Strategiepapier vor. Darin ruft sie im Gegensatz zum KVB-Papier dazu auf, die Kontakte, die potenziell zu einer Infektion führen können, auf ein Viertel zu reduzieren.
"Eine Halbierung der Kontakte ohne Vorsichtsmaßnahmen eines jeden Einzelnen reicht laut wissenschaftlichen Simulationen des möglichen Pandemieverlaufs gegenwärtig nicht aus, um die Zahl von Neuinfizierten pro Woche zu senken", heißt es in der Erklärung. Die notwendige Reduktion "von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen auf ein Viertel" sollten nach bundesweit einheitlichen Regeln durchgeführt werden.
Kontakte schnell reduzieren
Hinter diesem Aufruf mit dem Titel "Es ist ernst" stehen konkret die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft sowie der Leopoldina.
Anders als die ärztlichen Berufsverbände halten es die Wissenschaftsgesellschaften für elementar, dass die Gesundheitsämter wieder die volle Kontrolle über die Kontaktpersonennachverfolung erlangen. Der Kipppunkt, ab dem die Gesundheitsämter die Infektionsketten nicht mehr kontrollieren können, sei in vielen Kreisen und kreisfreien Städten bereits erreicht.
Die Autorinnen und Autoren fordern außerdem, die Maßnahmen zur Kontaktreduktion schnell zu ergreifen. „Auf eine hohe Auslastung der Intensivbetten zu warten, bevor konsequente Maßnahmen gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 umgesetzt werden, führt zu einer Krisensituation in der Krankenversorgung.“
Je früher eine konsequente Reduktion von Kontakten ohne Vorsichtsmaßnahmen erfolge, desto kürzer könne diese andauern und desto weniger psychische, soziale und wirtschaftliche Kollateralschäden werde diese verursachen.
Daniel Böldt
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