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Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).
© David Ausserhofer

EU-Förderung für Geistes- und Sozialwissenschaften: Mehr Geld für Identitäten und Kulturen

Die Geistes- und Sozialwissenschaften drohen, im EU-Forschungsetat benachteiligt zu werden. Dabei ist Forschung zu Identitäten oder sozialer Ungleichheit unerlässlich, meint Jutta Allmendinger, Präsidentin des WZB Berlin.

Finanz- und Haushaltskrise, Armut und soziale Ungleichheit, Bildungsherausforderungen, Mobilität und Umwelt, supranationale Legitimität. Oder auch: Identitäten, Sprachen und Kulturen, Europas Platz in der globalisierten Welt. Es ist wohl nicht ganz abwegig, solche Themen als relevant für Europa zu erachten, Themen, deren systematische Erforschung uns hilft, größere Zusammenhänge zu erfassen und Politik besser zu gestalten. Es sind Themen der Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich Fragen widmen, deren Beantwortung zukunftsentscheidend sein können.

Was finanzielle Ausstattung, Wertschätzung und Unabhängigkeit dieser wissenschaftlichen Disziplinen betrifft, scheint Europa blendend dazustehen – wenn man sich die Situation in den USA vergegenwärtigt. Dort hat der Kongress beschlossen, fast die gesamte Förderung für die politische Wissenschaft durch die National Science Foundation zu streichen. Es sollen nur noch Projekte gefördert werden, die der nationalen Sicherheit oder der Wirtschaftsentwicklung dienlich sind. Und ein vorzeitig bekannt gewordener Gesetzentwurf sieht vor, der Politik bei der Vergabe einzelner Forschungsvorhaben Einfluss zu gewähren.

Rosig sind die Zeiten für die Geistes- und Sozialwissenschaften in Europa dabei keineswegs. Das gilt für einzelne Länder, in denen krisenbedingt Hochschulen und Forschung bluten; gerade die Fächer ohne offenkundiges Sofortverwertungspotenzial stehen oben auf der Streichliste. Nun gibt es ja noch die Europäische Union. Diese regt an, fördert und eröffnet Chancen für grundlegende Forschung. Einer noch recht jungen Einrichtung wie dem European Research Council (ERC) ist es zum Beispiel gelungen, mit flexiblen Fördermodellen Forschung über Disziplinen und Ländergrenzen hinweg starke Impulse zu geben. Das Exzellente, Besondere und Innovative wird belohnt.

Aber die EU steht am Scheideweg, was die Förderung sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung angeht. Während der Budgetverhandlungen um Horizon 2020, dem EU-Forschungsförderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020, konnte nur ein Aufschrei aus der Wissenschaft noch das Schlimmste verhindern. 25 000 Forscherinnen und Forscher appellierten an die Kommission, den Ingenieur-, Natur- und Lebenswissenschaftlichen Disziplinen nicht in dem Maße Vorrang zu gewähren, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften (in Brüsseler Jargon SSH – Social Sciences and Humanities) nur noch die Krümel abbekommen. Den bis dahin formulierten Großkategorien (challenges) wurde daraufhin eine speziell für die Geistes- und Sozialwissenschaften passende „Herausforderung“ hinzugefügt: „Europa in einer sich wandelnden Welt“.

Verschiebungen im Etat der Geistes- und Sozialwissenschaften

Nun steht der Rahmen für den Sieben-Jahres-Haushalt. Auf den ersten Blick scheinen die Sozial- und Geisteswissenschaften nicht so schlecht davonzukommen. Aber das Problem steckt in den Details der jetzt laufenden Abschlussverhandlungen über Horizon 2020. Es mehren sich Anzeichen, dass die dafür vorgesehenen Mittel durch einen Verschiebevorgang massiv reduziert werden: Dem Teilhaushalt für diese „Herausforderung“ wurden Technologiethemen und eine Reihe von Querschnittsprogrammen untergejubelt, die sich anderswo in Horizon 2020 nicht richtig einordnen ließen. Das Budget für die Geistes- und Sozialwissenschaften würde dadurch massiv dezimiert, und die „Gesellschaftliche Herausforderung“ ist zum Waisenhaus für heimatlose EU-Programme mutiert.

Dahinter steckt die virulente Tendenz der Kommission, die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht in ihrer Autonomie wahrzunehmen. Diese Disziplinen werden trotz mancher Lippenbekenntnisse eher als Hilfs- und Begleitwissenschaften für die Technik- und Naturwissenschaften gesehen. Dies steht im krassen Gegensatz zur Politik der Kommission, die wichtige Initiativen zu Fragen von Armut, Beschäftigung und Wettbewerb auf den Weg bringt. Da sollen die Disziplinen, die dazu systematisch forschen, vernachlässigt werden?

Noch gibt es eine Chance, die Marginalisierung zu verhindern

Zeugt diese Sorge von einer Überbewertung der Geistes- und Sozialwissenschaften angesichts der realen Herausforderungen für die EU? Wohl kaum. Wir reden hier über 400 Millionen Euro für die Sozial- und Geisteswissenschaften in einer Challenge mit einem Budget von 1,15 Milliarden Euro – bei einem Gesamtbudget für die Forschung von 71 Milliarden Euro. Noch ist nicht zu Ende verhandelt, noch gibt es die Chance, die Marginalisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften zu verhindern.

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

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