Ein Schiffsunglück als Glücksfall für die Wissenschaft: Meeresforschung mit Quietscheentchen
Sie driften seit 20 Jahren durch den Pazifik und haben es bis in den Atlantik geschafft: Quietscheenten aus einem Schiffsunglück. Zum Glück von Ozeanographen.
Am 10. Januar 1992 geriet im Nordpazifischen Ozean ein Containerschiff auf dem Weg von Hongkong in die USA in einen schweren Sturm. Bei starkem Wind und hohen Wellen gingen mehrere Container über Bord, öffneten sich und etwa 29.000 Badewannen-Tiere aus Plastik gelangten ins Meer: Biber, Schildkröten, Frösche und vor allem Quietscheenten.
Eigentlich ein gewöhnlicher Unfall, aber für die Forschung ein Glücksfall. Denn aus den Fundorten der Badetierchen, die getrieben von Wind und Strömungen über die Meere reisten, an Küsten angespült und von Strandspaziergängern gesammelt wurden, ließen sich ihre Reiserouten und -zeiten rekonstruieren, und damit neue Erkenntnisse über Strömungsverhältnisse in den Ozeanen gewinnen.
„Ein wahrer Datenschatz“
Gesammelt hat die Informationen vor allem der US-amerikanische Ozeanograph Curtis Ebbesmeyer, heute im Ruhestand. Er hatte bereits Jahre vorher einen Schiffsunfall für die Sammlung wissenschaftlicher Daten genutzt, bei dem 60.000 Nike-Turnschuhe über Bord gegangen waren. Ein von ihm aufgebautes Netzwerk von Strandgutsammlern meldete die Funde. Dass angespülte Enten tatsächlich von dem 1992 havarierten Schiff stammten, ließ sich über eine Prägung des Herstellers nachweisen.
Der Forschung brachte das „einen wahren Datenschatz“, sagt Johanna Baehr, Ozeanographin an der Universität Hamburg. „Auf einen Schlag gab es tausende Datenpunkte – so viele wissenschaftliche Messgeräte würden wir sonst nicht einfach auf einmal aussetzen.“
Grundsätzlich ist die Idee, Meeresströmungen mit Hilfe schwimmender Messgeräte zu erforschen, nicht neu, im Gegenteil. „Der Einsatz von sogenannten Driftern ist eine der ältesten Methoden der Meeresforschung überhaupt“, erzählt der Ozeanograph Jörg-Olaf Wolff von der Universität Oldenburg. So habe bereits 1864 der Forscher Georg von Neumayer von der damaligen deutschen Seewarte in Hamburg vor Kap Hoorn eine Flaschenpost über Bord eines Schiffes werfen lassen. Darin die Bitte an den Finder, Fundort und Zeit an den Forscher zurückzumelden. „Die Flasche wurde später in Australien gefunden. «Das ist mehr als 150 Jahre her und hat dazu beigetragen, großskalige Meeresströmungen besser zu verstehen.“
Zigtausende kostenlose Informanten
Heute setzen Forschende viel präzisere Messgeräte ein, die mit GPS ausgestattet sind und Daten wie Temperatur, Salzgehalt des Wassers oder Luftdruck erfassen und an Satelliten funken können. „Es gibt auch freitreibende Geräte, die wiederholt von der Oberfläche auf ein und zwei Kilometer Tiefe absinken und dabei Daten sammeln“, sagt Wolff. Im Vergleich dazu lieferten Drifter wie die Badetiere zwar nur sehr ungenaue Daten. „Aber das ist besser als nichts, vor allem weil die Daten umsonst generiert wurden.“ Digitale Messgeräte seien teuer und könnten nicht in annähernd großer Zahl eingesetzt werden.
Wohin reisten die Gummi-Tierchen nun? Die Analyse der Funddaten ergab, dass sie zunächst in der Ringströmung des Nordpazifiks gegen den Uhrzeigersinn kreisten - von Sitka an der Küste Alaskas, entlang der Aleuten, vorbei an der Halbinsel Kamtschatka und schließlich über den Pazifik zurück entlang der US-Westküste hoch bis Alaska. 1994, 1998, 2001 und 2003 erreichten Ebbesmeyer Berichte von Funden aus Sitka, was nahelege, dass die Tierchen einige Runden im Kreis gedreht hatten. Andere entkamen dem Wirbel und gelangten bis nach Hawaii und Australien.
„Zu den spannendsten Erkenntnissen gehört vielleicht, dass die Badetiere vom Pazifik in den Nordatlantik getrieben sind“, sagt Baehr. „Das haben entsprechende Modelle zwar vorhergesagt, aber die Tiere haben belegt, dass das wirklich passieren kann.“ Tatsächlich fanden sich Exemplare Anfang der 2000er Jahre an der Westküste der USA sowie in Schottland und England. Sie waren durch die Beringstraße nordwärts ins Nordpolarmeer bis nach Grönland in den Nordatlantik gedriftet - ob eingefroren im Packeis oder oben auf den Eisschollen sitzend, ist offen. „Diese Route war eine interessante Bestätigung, dass es dort eine Oberflächenströmung gibt, die eine solche Strecke zurücklegt“, sagt Wolff.
Vielleicht driften noch immer einige Enten über die Meere oder durchs Eis
Der Ozeanforscher von der Universität Oldenburg untersuchte seit 2016 in einem interdisziplinären Team mit Hilfe von Driftern, wie sich Müll in der Nordsee verteilt. Die Forschenden warfen dazu insgesamt 65.000 kleine Holzdrifter in die Nordsee. Diese waren mit einer Nummer gekennzeichnet und mit der Bitte versehen, Fundstücke mit der Angabe von Ort und Zeit zu melden. Eines der überraschenden Ergebnisse des Projekts: Die Strömungsverhältnisse in der Nordsee können sich unter bestimmten Bedingungen umkehren. „Wir bekamen plötzlich Meldungen aus England. Damit war klar, dass die Holzdrifter nicht mehr wie üblich gegen den Uhrzeigersinn, sondern mit dem Uhrzeigersinn getrieben waren“, sagt Wolff. „Das wusste man vorher nicht.“
[Lesen Sie bei Tagesspiegel Plus, wo überall Plastik, ob Mikro- oder Nanoplastik, zu finden ist und was die Forschung bislang weiß, wie und ob es der Gesundheit schadet.]
Untersuchungen wie diese könnten dabei helfen, die Verbreitung von Plastikmüll besser zu verstehen und Konzepte zur Vermeidung zu entwickeln. Studien mit driftenden Messgeräten können darüber hinaus wichtige Vor-Ort-Daten liefern für die Entwicklung von Wettermodellen. „Das kann letztlich die Wettervorhersage oder, vor dem Hintergrund des Klimawandels, auch die Vorhersagen für kommende Jahrzehnte verbessern“, sagt Baehr.
Das derzeitige Schicksal der Plastiktierchen ist ungeklärt. „Ich glaube nicht, dass von denen noch welche unterwegs sind. 30 Jahre Wind, Wellen und UV-Strahlung lassen das Plastik spröde werden, vermutlich sind die zu Mikroplastik zerbröselt», sagt Ozeanograph Wolff. Johanna Baehr hingegen mag nicht ausschließen, dass die eine oder andere Ente nicht doch noch irgendwo auftaucht, zum Beispiel aus dem Eis. „Die Gummieenten sind erschreckend lange haltbar, wie alles Plastik, das ins Meer gelangt.“ (dpa)
Anja Garms