Infektionskrankheiten: Massenhaft Mikroben
Millionen Menschen besuchen die Olympischen Spiele. Forscher fürchten, dass dort Krankheiten verbreitet werden – und untersuchen, wie groß die Gefahr ist.
Die ersten Berichte über eine mysteriöse neue Krankheit in Kambodscha tauchten im April auf. Kleine Kinder, meist jünger als drei Jahre, litten plötzlich unter Fieber, an ihren Körpern bildeten sich wunde Stellen. Dann wurden Lunge und Gehirn befallen. Allein im Katha-Bopha-Kinderkrankenhaus in Pnomh Penh wurden in wenigen Wochen 66 Kinder mit den Symptomen eingeliefert. 64 von ihnen starben, meist innerhalb eines Tages. Anfang Juli verkündeten Forscher, die Ursache sei identifiziert: eine besonders aggressive Variante des Virus EV-71, das die Hand-Fuß-Mund-Krankheit verursacht und sich zurzeit auch in anderen Teilen Asiens ausbreitet.
Bei den Organisatoren der Olympischen Spiele regte sich Unbehagen: Könnte das ansteckende Virus in London auftauchen und sich unter Sportfans verbreiten? Kamran Khan, ein Infektionsmediziner am St.-Michael’s-Krankenhaus in Toronto, befragte den Computer. Khan hat aus Flugdaten, Reiserouten und Online-Berichten von Krankheiten ein Programm namens Bio.Diaspora aufgebaut, das helfen soll einzuschätzen, wo und wie schnell sich neue Krankheiten ausbreiten. Im Fall von EV-71 gibt Khan Entwarnung: „Im Juli und August sind Kambodscha und Großbritannien kaum miteinander verbunden“, sagt der Mediziner. Hinzu kommt, dass die Krankheit meist kleine Kinder trifft, die besonders selten reisen. Doch endgültige Sicherheit kann auch Khan nicht versprechen und die Episode zeigt: Rund um die Olympischen Spiele sind Mediziner nervös.
Große Sportveranstaltungen haben schon immer ein gewisses Risiko mit sich gebracht – für Sportler und Zuschauer gleichermaßen. Im Jahr 532 führte ein Wagenrennen in Konstantinopel zu Ausschreitungen, die verfeindete Gruppen von Wagenlenkern gegeneinander und gegen den Kaiser Justinian I. aufbrachten. Der Nikaaufstand hinterließ tausende Tote und ganze Stadtteile in Trümmern.
Mediziner der modernen Ära fürchten eher den Ausbruch einer ansteckenden Krankheit als einen Gewaltausbruch. Ihre Angst: Riesige Sportveranstaltungen wie die Olympischen Spiele in London könnten als Drehkreuz für Infektionskrankheiten dienen. Die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC, ihr europäisches Pendant ECDC und die Weltgesundheitsorganisation haben Sportfans deshalb dazu aufgerufen, ihre Impfungen – besonders gegen Masern, Röteln und Polio – zu überprüfen.
Die Logik leuchtet ein: Wenn Millionen Menschen aus aller Welt sich an einem Ort treffen, dann bringen sie auch Keime aus aller Welt mit. Die Krankheitserreger können sich in kürzester Zeit in der Menge ausbreiten, um dann in ihren Wirten in die entlegensten Winkel des Globus zu reisen. Oder Fans bringen Krankheiten mit, die am Veranstaltungsort noch nicht oder nicht mehr vorkommen.
Die Masern etwa sind auf dem amerikanischen Kontinent eliminiert. Aber während der Olympischen Winterspiele in Vancouver 2010 steckten sich drei Kanadier bei einer Veranstaltung mit dem Virus an. Die Episode wurde zum größten Masernausbruch in British Columbia seit 1997. 82 Menschen erkrankten, ein Viertel von ihnen musste im Krankenhaus behandelt werden. Das mag vergleichsweise harmlos klingen, aber dasselbe Szenario mit einem neuen Erreger wie der Lungenkrankheit SARS bereitet manchen Forschern schlaflose Nächte.
Noch ist allerdings unklar, wie häufig so etwas passiert und wie groß die Gefahr ist, dass es zu einem wirklich verheerenden Ausbruch kommt. Mediziner beschäftigen sich erst seit kurzem mit den Gesundheitsrisiken riesiger Veranstaltungen wie der Olympischen Spiele.
Dabei sind große Sportturniere lediglich eine Form von Massenveranstaltung. Auch Rockkonzerte, Demonstrationen und riesige religiöse Zeremonien versammeln unzählige Menschen – und sie werden immer bedeutender. „Die Weltbevölkerung wächst und wird mobiler und dadurch werden Massenveranstaltungen immer häufiger und größer“, sagt Khan. Für die Hochzeit von Prinz William und Catherine Middleton kamen im vergangenen Jahr eine Million Menschen in die Innenstadt von London, sechs bis zwölf Millionen Menschen versammelten sich 1989 in Teheran für die Beerdigung des Ayatollah Khomeini, und für Kumbh Mela, ein hinduistisches Fest, bei dem sich Gläubige von ihren Sünden reinwaschen, strömen bis zu 70 Millionen Menschen an den Ganges – die größte Menschenansammlung auf der Erde.
Forscher wie Khan sehen sich als Teil eines neuen Forschungsfeldes, „mass gathering health“ genannt – und sie machen von sich reden. 2010 trafen sich die Köpfe der neuen Bewegung in Jeddah in Saudi-Arabien für eine dreitägige Konferenz. Und dieses Frühjahr erschien eine ganze Serie von Artikeln, die sie geschrieben haben, im Fachblatt „Lancet Infectious Diseases“. Darin zählen sie die Risiken auf, mit denen sich das junge Feld beschäftigt: Austrocknung, Hitzschlag, Massenpanik. Masern, Grippe, Lebensmittelvergiftung.
Auch die Weltgesundheitsversammlung diskutierte im Mai dieses Jahres die medizinischen Herausforderungen von Massenveranstaltungen. Vorreiter ist Saudi-Arabien. Denn das neue Forschungsfeld hat seine Wurzeln in der Haddsch, der Pilgerfahrt, die jeder Muslim laut Koran mindestens einmal im Leben unternehmen sollte. Mehr als zwei Millionen Menschen folgen jedes Jahr diesem Ruf und auf der Wallfahrt gab es in der Vergangenheit Ausbrüche von Pocken, Pest und Typhus. Heute ist das größte Problem ein Erreger namens Neisseria meningitidis, ein tödliches Bakterium, das Gehirnhautentzündung und Blutvergiftung verursachen kann. 1987 kam es bei der Haddsch zu einer ersten Ansteckungswelle mit dem Erreger. Saudi-Arabien verlangte daraufhin von Reisenden einen impfnachweis. Im März 2000 infizierten sich Pilger dann mit einer neuen Variante, W135, und trugen sie nach Afrika, Asien und Amerika. Auch in Europa erkrankten in den Wochen nach der Haddsch 90 Menschen aus neun Ländern, 14 starben.
Die Haddsch ist aus mehreren Gründen besonders riskant: Pilger seien häufig alt, ehe sie sich die Reise leisten könnten, sagt Khan. „Und viele Menschen sind sehr krank, weil sie gehen wollen, bevor sie sterben.“ Fast 200 000 Pilger kommen aus armen Ländern mit einem schlechten Gesundheitssystem. Viele schlafen eng gedrängt in Zeltstädten. Und weil der Zeitpunkt der Haddsch sich nach dem Mondkalender richtet, kann sie sowohl in die Hochzeit der Influenza in der Nordhalbkugel wie auch die Meningitissaison im südlichen Afrika fallen.
Beim Sport sieht es anders aus. Wissenschaftler am Robert-Koch–Institut haben die Krankheitsmeldungen während und nach der Fußball-WM 2006 untersucht. Damals gab es ebenfalls eine ganze Reihe von Masernerkrankungen. In vielen amerikanischen Ländern wurden Reisende gewarnt, sie könnten sich in Deutschland anstecken. Doch die Experten des RKI fanden nicht einen einzigen Masernfall, der mit der WM in Zusammenhang stand. Auch sonst konnten sie keine erhöhte Zahl von Erkrankungen bei Deutschen oder Fans aus aller Welt nachweisen.
Nur ein einzelnes Sommermärchen? Keineswegs. Studien der Olympischen Spiele in Sydney im Jahr 2000, der Fußball-EM in Portugal 2004 und der Fußball-WM in Südafrika 2010 kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Trotz all der Warnungen seien die meisten Massenveranstaltungen eben doch keine Brutstätten für Bakterien und Viren, schlossen die deutschen Wissenschaftler.
Aber warum sollten Besucher großer Sportveranstaltungen gegen solche Infektionen immun sein? Es könnte mehrere Gründe geben, sagt Brian McCloskey, der die Vorbereitungen der britischen Gesundheitsbehörde für die Olympischen Spiele leitet. Die Fans, die zu großen Sportveranstaltungen reisen, seien meist jung, wohlhabend und gesund, sagt er. Das alles senke ihr Risiko sich anzustecken. „Ich mache mir immer Sorgen über die Masern, aber nicht mehr als während des Rests des Jahres“, sagt McCloskey.
Khan und seine Kollegen haben außerdem die Reisebewegungen zu den Ausrichtungsstätten der Olympischen Spiele in den letzten Jahren untersucht. Das Ergebnis: Es kommen gar nicht Millionen zusätzliche Besucher, wie häufig behauptet wird. So sahen die Forscher keinen bedeutsamen Besucheranstieg in Athen 2004 und 2008 in Peking sogar einen leichten Rückgang. „Eine Menge Leute vermeiden einfach diese Städte, während dort die Olympischen Spiele laufen“, sagt Khan. Er wartet gespannt auf die Ergebnisse aus London. Normalerweise seien Juli und August die Hauptreisezeit, sagt er, mit drei Millionen mehr Besuchern als in der ruhigsten Zeit des Jahres. „Eine Sache, die wir nach London hoffentlich besser verstehen, ist das menschliche Verhalten: Werden Leute sagen, ich will dabei sein oder lieber einen Bogen um die Stadt machen?“
Für Khan sind die Olympischen Spiele ein Experiment: Er möchte sie nutzen, um die Lücke, die zwischen Befürchtungen und Beobachtungen klafft, zu schließen. Sein Team hat die Ticketverkäufe sowie die Reiseströme nach London für die vergangenen fünf Jahre analysiert, um abzuschätzen, von wo die Besucher in den nächsten drei Wochen nach London kommen werden. Hinzu kommen Daten aus dem Internet: Nachrichtenseiten, soziale Netzwerke, Gesundheitsdienste werden nach Hinweisen auf Krankheitsausbrüche untersucht. Daraus kann Khan eine Vorhersage erstellen, welche Krankheiten in London zu erwarten sind. „Das wollen wir dann vergleichen mit den Krankheiten, die tatsächlich auftauchen“, sagt Khan. So sollen in Zukunft bessere Vorhersagen möglich sein.
Auch wenn es bisher nur wenige Beispiele für große Krankheitsausbrüche bei Sportturnieren gibt, warnt er vor zu viel Gelassenheit. Dass so wenige Menschen sich bei Sportveranstaltungen anstecken, könnte auch daran liegen, dass so viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Doch wie im Sport gilt auch hier: Selbst die beste Verteidigung kann hin und wieder überrannt werden.
Wo viele Menschen aufeinandertreffen, da können sie auch Keime austauschen. Forscher fürchten vor allem, dass hoch ansteckende Viren wie Grippe oder Masern auf diese Art und Weise in der ganzen Welt verbreitet werden.
Massenveranstaltungen werden immer häufiger und größer, sagen Experten. Das liege daran, dass die Weltbevölkerung wächst und zugleich mobiler wird.
Aus Flugdaten, Reiseströmen und Internetquellen hat der Mediziner Kamran Khan ein Computerprogramm erstellt, das schnell vorhersagen soll, welche Krankheiten sich wie ausbreiten. Bei den Olympischen Spielen in London will Khan das Modell testen.
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