Intersexualität: Männlich, weiblich, anderes
Abwarten vor geschlechtszuordnenden Korrektureingriffen: Der Ethikrat nimmt Stellung zum Leben zwischen den Geschlechtern. Fast revolutionär mutet der Vorschlag an, in Ausweisen künftig auf die Einordnung in weiblich oder männlich zu verzichten.
„Ich bleibe Flickwerk, geschaffen von Medizinern, verletzt, vernarbt.“ Verzweifelte Worte eines Menschen, der in seiner Kindheit mehrere operative Eingriffe mitmachen musste, weil er weder den Mädchen noch den Jungen zweifelsfrei zuzuordnen war. Das Zitat findet sich in einer Stellungnahme zum Thema Intersexualität, die der Deutsche Ethikrat gestern der Bundesregierung übergab. Der Ethikrat hatte von der Bundesregierung im Dezember 2010 den Auftrag erhalten, die Situation von Intersexuellen umfassend aufzuarbeiten, nachdem er im Frühsommer desselben Jahres eine viel beachtete Veranstaltung über die Schwierigkeiten des „Lebens zwischen den Geschlechtern“ organisiert hatte.
Intersexualität wird in dem nun vorliegenden, fast 150 Seiten dicken Werk als zwischengeschlechtliche Variation verstanden, bei der das Geschlecht biologisch-medizinisch nicht eindeutig zu bestimmen ist. Früher sprach man von Hermaphroditen oder Zwittern, heute ist international bei Medizinern und Psychotherapeuten die Bezeichnung DSD üblich, was die Autoren als Kürzel für „Differences of Sexual Development“ (Unterschiede in der sexuellen Entwicklung) verstehen. In einigen Fällen kann das „D“ allerdings auch für „Disease“ (Krankheit) stehen: Dann kann die Abweichung sogar lebensbedrohlich krank machen. Klassisches Beispiel ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS), das aufgrund hormoneller Veränderungen bei genetisch weiblichen Mädchen nicht nur zur Vermännlichung der äußeren Geschlechtsorgane, sondern auch zu lebensgefährlichen Salzverlustkrisen führen kann. Dass hier mit Medikamenten behandelt werden muss, ist unstrittig.
Die Ergebnisse der Onlinebefragung des Deutschen Ethikrats, an der sich insgesamt 199 Personen beteiligten, zeigen denn auch ganz klar: In der Gruppe der AGS-Frauen ist die Zufriedenheit mit der Behandlung und dem eigenen Leben vergleichsweise groß. Dagegen belegen Berichte und Untersuchungen wie die deutsch-österreichisch-schweizerische Netzwerkstudie und die Intersex-Studie von 2008, dass vor allem in den 50er und 60er Jahren anderen Betroffenen durch wohlmeinende, aber teilweise bevormundende Mediziner Leid widerfahren ist.
Übergeordnetes Ziel der Stellungnahme ist dagegen die Anerkennung der Betroffenen im „So-Sein“. Wann immer medizinisch möglich, Abwarten vor geschlechtszuordnenden Korrektureingriffen, vollständige Aufklärung der Eltern über alle Möglichkeiten des Vorgehens, möglichst gutes Einbeziehen der Heranwachsenden, Bedenkzeit vor jeder Entscheidung: Das sind die wichtigsten Empfehlungen, auf die sich die Mitglieder des Deutschen Ethikrates einigen konnten.
Etwa 8000 bis 10.000 Betroffene
Die medizinische und psychologische Beratung der Familien sollte zudem nur in spezialisierten Kompetenzzentren erfolgen, Betreuungseinrichtungen sollten im ganzen Land verfügbar sein, und Selbsthilfeorganisationen sollten unterstützt werden. Für Forschungszwecke empfiehlt der Deutsche Ethikrat die Einrichtung einer anonymisierten europaweiten Datenbank. Und er spricht sich dafür aus, Verjährung von medizinischen Straftaten an Kindern, deren Fortpflanzungsfähigkeit oder sexuelle Empfindungsfähigkeit etwa durch eine Operation geschädigt wurde, bis zu deren Volljährigkeit ruhen zu lassen; auch zivilrechtliche Ansprüche sollten länger geltend gemacht werden können. Zudem plädiert der Ethikrat für einen Hilfsfonds.
Geradezu revolutionär muten die Überlegungen an, die in der Stellungnahme zur Angabe des Geschlechts in amtlichen Dokumenten geäußert werden: Der Ethikrat betrachtet es als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung, wenn Menschen gezwungen werden, sich im Personenstandsregister zwischen den Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ zu entscheiden, obwohl sie sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution keiner von beiden zuordnen können. Eine mögliche Lösung könne darin bestehen, dass auch die Geschlechts-Kategorie „anderes“ zum Ankreuzen angeboten würde.
Denkbar wäre auch, die Festlegung aufzuschieben, bis ein Heranwachsender sich selbst entschieden hat – oder der völlige Verzicht auf den Eintrag, dessen Notwendigkeit man durchaus infrage stellen könne. „Auch die Chancengleichheit im Sport kann durch andere Mechanismen als durch eine personenstandsrechtliche Regelung sichergestellt werden“, heißt es mit Blick auf Fälle wie den der Läuferin Caster Semenya. Mit überwiegender Mehrheit schlägt der Ethikrat zudem vor, Menschen mit dem Geschlechtseintrag „anderes“ eine eingetragene Lebenspartnerschaft zu ermöglichen, die heute für homosexuelle Paare reserviert ist. Ein Teil der Mitglieder will ihnen erlauben, eine Ehe einzugehen, die nur zwischen Frau und Mann zulässig ist.
Damit reichen die Empfehlungen über die mit 8000 bis 10.000 Betroffenen relativ kleine gesellschaftliche Gruppe hinaus. Sie haben schon deshalb Gewicht, weil ihnen neben der Onlinebefragung Stellungnahmen von 15 Juristen und 18 Medizinern, Psychologen, Soziologen und Philosophen eine öffentliche Anhörung und ein Onlinediskurs vorausgingen.
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