Frühe Artenvielfalt: "Lucy" hatte Nachbarn
Das Skelett der Vormenschen-Frau aus Ostafrika ist weltberühmt. Neue Funden zeigen: Vor rund 3,3 Millionen Jahren lebte in der Gegend eine weitere Vormenschen-Art.
"Lucy" hatte mehr Verwandte als bisher angenommen. Diese Vormenschen lebten nicht nur zur gleichen Zeit wie sie, sondern auch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Das schließen Forscher um Yohannes Haile-Selassie vom Naturkundemuseum in Cleveland aus zwei Unterkiefern und zwei teilweise erhaltenen Oberkiefern, die sie in einem Ausgrabungsgebiet 520 Kilometer nordöstlich der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba fanden.
Wo heute nichts als Ödnis ist, stand einst eine Wiege der Menschheit. Australopithecus afarensis durchstreifte die Gegend bereits vor 2,9 bis 3,8 Millionen Jahren auf zwei Beinen, zeigte das als „Lucy“ berühmt gewordene Skelett einer Vormenschen-Frau. Doch vor drei Millionen Jahren oder früher sei die menschliche Evolution nicht durch Artenvielfalt geprägt gewesen, glaubten Paläoanthropologen lange. Fossilien aus der Zeit des Mittleren Pliozäns schrieben sie in den 1970er und 1980er Jahren daher meist Australopithecus afarensis zu.
In der Nähe fanden die Forscher Kieferknochen einer anderen Art
Dieser Konsens bröckelt. „Wir sollten Funde aus der frühen Phase unserer Evolution unvoreingenommen untersuchen, statt sie wegen einer überkommenen Hypothese nicht ernst zu nehmen“, sagt Haile-Selassie. Die 3,3 bis 3,5 Millionen Jahre alten Kieferknochen, die sein Team nur 35 Kilometer nördlich der Fundstelle von Lucy entdeckte, beweisen seiner Ansicht nach die Existenz der nunmehr vierten Vormenschen-Art, die bereits vor mehr als drei Millionen Jahren existierte: Australopithecus deyiremeda. Möglicherweise sind es noch mehr – Haile-Selassies Team hatte in dieser Gegend vor einigen Jahren auch einen Fußknochen gefunden, der nicht zu Australopithecus afarensis passte. Denn er war viel schlechter an das aufrechte Gehen angepasst.
Deyiremeda bedeutet in der lokalen Sprache „naher Verwandter“. Der vordere Teil des Gebisses ähnelt dem von Australopithecus afarensis. Die Wangenknochen gehen jedoch weiter nach vorn als bei Lucy, die Backenzähne wirken robuster und haben mehr Zahnschmelz, schreiben die Forscher im Fachblatt „Nature“. „Die Zähne sind eher auf kraftvolles Kauen ausgelegt“, sagt Haile-Selassie. Möglicherweise konnten die beiden Arten als Nachbarn koexistieren, weil sie sich unterschiedlich ernährten.
Viel Stoff für eine lebhafte Debatte
Noch ist jede Erklärung für dieses Nebeneinander Spekulation. Schließlich könne man aus der Morphologie allein nicht ableiten, ob es sich um die Folgen zufälliger Mutationen handelt oder um eine Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, die einen Vorteil für das Überleben sicherte, schreibt Fred Spoor vom University College London in einem Kommentar. Fossilien, die Aufschluss über die Pflanzenwelt aus der Zeit geben, könnten bei der Interpretation helfen. Außerdem müsse man in Betracht ziehen, dass Australopithecus deyiremeda möglicherweise die Steinwerkzeuge zum Knochenschneiden benutzt hat, die bei einer anderen Ausgrabung entdeckt wurden. „Es gibt viel Stoff für eine lebhafte Debatte“, schreibt Spoor.
Noch können die Forscher Australopithecus deyiremeda nicht eindeutig an eine Stelle im Vormenschen-Stammbaum einordnen – oder festlegen, welche Art tatsächlich die Urahnen des heutigen Menschen stellt, sagt Haile-Selassie. „Lucy ist jedenfalls nicht mehr die einzige Kandidatin.“