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© laif

Nizza: Licht, schimmernd wie Seide

Große Künstler sind seit je gefangen von der Stimmung an der Côte d’Azur. Ein Winterbesuch in Nizza zeigt: Normalsterblichen geht es genauso.

Der Aufzug zum alten Fort auf der Spitze des Schlossbergs ist in den einstigen Brunnenschacht hineingebaut. Wasser war überlebenswichtig, für die Verteidiger einer Burganlage war es das Kostbarste überhaupt. An der Côte d’Azur war das Nass stets knapp, und so zeugt es von großem Wohlstand, dass sich Nizza einen Wasserfall am höchsten Punkt des auf Geheiß Ludwigs XIV. nach der Eroberung der Stadt geschleiften Forts leisten konnte, gespeist aus einem künstlichen Zufluss aus dem Hinterland. Wohlstand trifft man auch im Nizza von heute auf Schritt und Tritt.

Vom Fort aus erstreckt sich das Panorama über Stadt und Meer, nordwärts bis zu den jetzt schneebedeckten Gipfeln der Meeralpen. Die Luft ist im Februar so klar wie kaum sonst im Jahr, und doch ist das Licht nicht grell, sondern schimmernd wie Seide. „Als ich mir bewusst wurde, dass ich jeden Morgen dieses Licht wieder sehen werde, konnte ich mein Glück kaum fassen.“ So soll Henri Matisse gesagt haben, der Maler der Lebensfreude schlechthin. Ihm ist ein eigenes Museum gewidmet, im noblen Stadtteil Cimiez hügelan gen Norden, in Nachbarschaft zum einstigen Luxushotel Regina, in dem er selbst jahrelang sein Atelier hatte. Heute ist das Regina, mit weitläufigen Parks vor der Tür, in Eigentumswohnungen umgewandelt, wie sie in den unzähligen Maklerbüros der Innenstadt zum Kauf angeboten werden. Der Markt sei „fragil“, lesen wir in der lokalen Tageszeitung „Nice Matin“. Ein Überangebot sorge für deutliche Preisrückgänge. Mag sein, aber für uns würde es bei Weitem nicht einmal für ein Studioappartement reichen, von einem mehrzimmrigen Zuhause ganz zu schweigen.

Wir begnügen uns mit einer Ferienwohnung, außerhalb der Saison durchaus günstig zu mieten. Was heißt in Nizza schon „außerhalb“? Sogar im Februar regnet es, rein statistisch, kaum. Es regnet sogar weniger als in den Sommermonaten. Wir hatten jedenfalls eine beinahe regenfreie, zumeist sonnige Woche in der alten, zwischen Savoyen und Frankreich hin und her regierten Hafenstadt, mit wahrlich azurblauem Himmel.

Der Spätwinter – oder auch Vorfrühling, wie man will – ist eine ideale Reisezeit für die Côte. Und Nizza ist ihr natürlicher Mittelpunkt, außerhalb des Sommers noch mehr, weil saisonale Schließzeiten in dieser quirligen, aus sich selbst heraus vitalen Stadt keine Rolle spielen. Selbst die Strandbars, die meerseitig unter der Promenade des Anglais untergebracht sind, haben mit dem Sonnenschein ihre Stühle zwischen Kaimauer und Kiesstrand hinausgestellt, und um die Mittagsstunden kommen die Gäste zu Kaffee und Zeitungslektüre.

Cafés sind überall in der Stadt wohlbesucht, wobei die Grenze zum Restaurant frankreichtypisch fließend verläuft. Auffällig die zahlreichen Heizstrahler, beweglich oder an den Hauswänden fest installiert – Kontrast zu den mittlerweile in Frankreich häufigen Plakaten und Hinweisen zu ökologisch korrektem Verhalten. Man liebt es, draußen zu sitzen, trägt aber gern auch noblen Pelz.

Nicht, dass es um diese Jahreszeit keine Touristen gäbe. Aber sie bestimmen ganz und gar nicht das Straßenbild. Durch die Altstadt zu spazieren, die lange Zeit von sozialem Abstieg bedrohte, längst jedoch von Restaurants und Geschäften wiederbelebte Vieille Ville mit ihren handtuchschmalen Gassen, ist zu dieser Jahreszeit ein Vergnügen. Vor dem monumentalen Justizpalast mit den eingemeißelten Worten „Liberté, Egalité, Fraternité“ ist dann wieder Platz für einen Café-Stopp.

Oder man geht aus der Altstadt gleich hinauf zur höher gelegenen Place Garibaldi, die nach italienischem Vorbild mit gleichmäßiger Randbebauung angelegt ist. Das Grand Café de Turin ist wiederum kein Kaffeehaus, sondern das traditionelle Fisch- und Meeresfrüchterestaurant schlechthin. Von der Place Garibaldi zum Alten Hafen ist es nur einen Straßenzug weit, gesäumt von Antiquitätenläden für Möbel, Uhren oder dekorativen Krimskrams bis hin zu Chorschranken aus ehemaligen Kirchen.

Am Alten Hafen beginnt ein anderes Nizza, ungeachtet der dort vertäuten Luxusyachten; ein Nizza der Alteingesessenen und derer, die nicht zur ewigen Sonnenseite der von der Promenade des Anglais gesäumten Engelsbucht gehören. Immerhin gibt es, geografisch durch die enge Tallage Nizzas bedingt, keine problembeladene Banlieue, wie sie etwa Paris oder Lyon umschließt. Vielmehr steigt gleich aus dem eng bebauten Hafenviertel die Moyenne Corniche in die Höhe, schlängelt sich die Küstenstraße um die herandrängenden Vorgebirge, und überall herrscht dort der Wohlstand von Villen mit Meerblick. Nach Monaco ist es, je nach Verkehrslage, eine dreiviertelstündige Busfahrt. Die Linie 100 verkehrt alle 20 Minuten, der Pendlerverkehr in die grimaldische Steueroase ist stark. Schneller geht es mit der Bahn, die im Tunnelbahnhof von Monaco anhält, auf dem Weg ins italienische Ventimiglia.

Das Nahverkehrsnetz ist übrigens derart vorzüglich, dass man als leidgeprüfter Berliner nur staunen kann. Eine Fahrt innerhalb Nizzas und bis weit ins Umland hinein kostet einen Euro, eine Wochenkarte deren 15, und sogar bis Cannes auf der einen oder Monaco auf der anderen Seite ist nicht mehr als ein Euro fällig, freilich an einen anderen Verkehrsverbund zu entrichten. Und wer die Berge im Hinterland liebt oder gar den Berliner Winter vermisst, möge um neun Uhr morgens mit dem Zug nach Tende hinauffahren, auf der 40 Jahre lang unterbrochenen Strecke hinüber nach Italien. Zurück geht’s über Ventimiglia und dann hart am Küstensaum entlang zurück nach Nizza.

Ans Busfahren hat man sich schnell gewöhnt; in Nullkommanichts geht’s zur Haupteinkaufsstraße, der nach dem Dauer-Bürgermeister benannten Avenue Jean Médecin. Sie ist größtenteils autofrei, weil die wieder eingeführte Straßenbahn von ihr Besitz ergriffen hat, die sich aufs Beste mit den Flaneuren entlang von Lafayette, Fnac oder der Shopping-Mall Nice Étoile verträgt. Am südlichen Ende, der großartig hergerichteten Place Masséna, verzweigt sich eine Fußgängerzone, in der die gängigen Luxusmarken mit preiswerteren Boutiquen ebenso wie mit Cafés und Crèperien in friedlicher Koexistenz leben. Auffällig für deutsche Augen die zahlreichen Läden für Kinderkleidung – Spiegel der französischen Familienpolitik, aber ebenso der gern gezeigten Freude am herausgeputzten Nachwuchs.

Vom Schaufensterbummel ermüdet, wird eine Erholungspause im Feriendomizil eingelegt. Wir fühlen uns heimisch in Nizza – und versäumen beinahe, Sehenswürdigkeiten wie das gerade zehn Jahre alt gewordene Fotografiemuseum in einem wunderschönen Art-Déco-Gebäude aufzusuchen. Oder das vor nicht allzu langer Zeit renovierte Stadtmuseum, das Musée Masséna im Beaux-Arts-Palais dieser unter Napoleon aufgestiegenen und lange Zeit tonangebenden Familie. Oder, oder – es gibt ein Dutzend Museen in Nizza. Dazu als besondere Sehenswürdigkeit die einzige russische Kirche, die in Westeuropa das Prädikat einer orthodoxen „Kathedrale“ trägt. Aus rosa Backstein und hellgrauem Marmor gebaut, verziert mit bunten Keramiken. Schließlich pflegte die Zarenfamile hier über Generationen hinweg gern die Wintermonate zu verbringen. Was für ein Traumbild für russische Augen – sechs Zwiebeltürme im südlichen Licht! Zudem feiert die orthodoxe Gemeinde just ihr 150-jähriges Bestehen.

150 Jahre her ist vor allem der Anschluss an Frankreich. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der aus Nizza gebürtige Freiheitsheld Giuseppe Garibaldi, der die italienische Einigung erzwang, damit zugleich den Vorwand lieferte, dass sich die bei Savoyen verbliebenen Gemeinden der Grafschaft Nizza dem Second Empire anschlossen – übrigens per einmütige Volksabstimmung.

Allen Museen, Kirchen, Palästen zum Trotz: Im Grunde muss man in Nizza gar nichts unternehmen. Man kann einfach nur leben wie Gott in Frankreich. Auch schon im Vorfrühling.

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