Depressionen: Licht ins Dunkel
Renaissance der Elektrotherapie: Gezielte Stromreize sollen bei der Behandlung schwerer Depressionen helfen.
Rund 10 000 Menschen nehmen sich in jedem Jahr in Deutschland das Leben, zehn Mal so viele versuchen es. Die meisten von ihnen haben zuvor an schweren Depressionen gelitten. „Gefangen in einer versteinerten Welt“, so beschreibt es Michael Colla von der Klinik für Psychiatrie der Charité, Campus Benjamin Franklin. Hat es einen Star wie den Fußballer Robert Enke getroffen, dann ist das öffentliche Interesse groß. „Wir sind aber traurig, dass wir in solchen Situationen immer nur bruchstückhaft informieren können“, sagt Colla. Mit der Veranstaltung „Depression darf kein Tabu sein“ konnten Mitarbeiter seiner Klinik das am Montagabend in der Berliner Urania anders machen. Der große Andrang zeigte, dass es einen erheblichen Informationsbedarf gibt – auch ohne dass das Thema Depression die aktuelle Berichterstattung beherrscht.
Den Boxtrainer Olaf zum Beispiel, der einmal für ein Dreivierteljahr ein Seil von der Decke seines Schlafzimmers hängen hatte, weil er nicht von dem Gedanken loskam, sich das Leben nehmen zu wollen, kannten hier im Saal nur wenige. Olaf ist eine der Hauptpersonen in dem Dokumentarfilm „Schattenzeit“, der bei diesem Infoabend in der Urania seine Deutschland-Premiere hatte. Der einstündige Film von Regisseur Gregor Theus von der Kunsthochschule für Medien in Köln wurde in der Charité-Klinik gedreht und wird im September zunächst im rbb-Fernsehen, später auch in anderen ARD-Sendern laufen.
Olaf gehört zu der kleinen Gruppe schwer depressiver Patienten, denen Medikamente allein nicht aus dem Tief heraushelfen können. Wie auch Maria, die junge anmutige Studentin, die vor einigen Monaten plötzlich jedes Interesse, jede Freude und alle Fähigkeit zur Konzentration verloren hat. Beide wurden deshalb an der Charité mit der Elektrokonversionstherapie (EKT) behandelt. Unter einer Kurznarkose bekam ihr Gehirn bei dieser Behandlung, die auch als „Elektrokrampftherapie“ oder „Elektrokonvulsionstherapie“ bekannt ist, dreimal in der Woche für weniger als eine Minute gezielte, krampfauslösende Stromstöße – ähnlich wie bei einem Defibrillator fürs Herz, „allerdings nur mit einem Achtel der Dosis“, wie Angela Merkl von der Klinik für Psychiatrie erläuterte. Muskelentspannende Medikamente verhindern dabei ein Verkrampfen des Körpers. Die Behandlung geht zunächst über drei bis vier Wochen. Wie sie wirkt, ist noch nicht ganz geklärt.
Ein weiteres Verfahren, die „Tiefe Hirnstimulation“, bezeichnete Merkl als „rein experimentelles Verfahren für sehr schwere Fälle“. Bei Patienten mit Parkinson hat die Methode sich zwar bereits bei mehr als 20 000 Patienten bewährt. „Bei Depressionen steuern wir allerdings andere Strukturen im Gehirn an“, erläuterte Merkl. Mit viel Geschick schieben Neurochirurgen dafür durch kleine Löcher in der Schädeldecke Elektroden ins Gehirn, die von einem Steuergerät Impulse bekommen. Der Vorteil der Methode sei, dass man die Stimulation rückgängig machen könne, indem man den Schrittmacher wieder ausschalte. Aber auch in diesem Fall ist die Datenlage dünn. Für die Wirkung der Stimulation in den Bereichen des Frontalhirns und des Belohnungszentrums lägen kaum Studienergebnisse vor, sagte Merkl.
Im Film sagt die Studentin Maria, sie freue sich auf die EKT. Die Behandlung erscheint ihr wie ein Rettungsanker in einer ausweglosen Situation. Dabei haben Stimulationstherapien für psychisch Kranke einen ausgesprochen schlechten Ruf. „Missverständnisse, aber auch die Anwendung nicht adäquater Methoden haben seit den 60er Jahren zur Stigmatisierung beigetragen“, sagt Merkl. Nicht zuletzt in Filmen wie „Einer flog über das Kuckucksnest“ wurden „Elektroschocks“ auch als Mittel der Bevormundung und Machtausübung angeprangert. Die Skepsis ist nachhaltig, obwohl die Ansätze seit den 80er Jahren in Fachkreisen eine Renaissance erleben. Merkl berichtete von einer Charité-Studie, für die Patienten zu ihrer Einstellung gegenüber der EKT befragt wurden. Vor der Behandlung schätzte nur ein Drittel der Befragten sie als hilfreich ein, danach waren es immerhin 80 Prozent.
Es wäre allerdings bei weitem zu optimistisch, wenn man von der EKT ebenso hohe Heilungsraten erwarten würde. „Es geht mir besser, aber nicht gut“, sagt Filmprotagonist Olaf. Und Maria kann sich nach der Behandlung zwar wieder an vielen Dingen des Lebens freuen. Gesund genug, um ihr Studium wieder aufzunehmen, fühlt sie sich aber noch längst nicht.
„Wenn man es geschafft hat, die Stimmung zwei Monate auf stabilem Niveau zu halten, fängt oft erst die harte Arbeit an“, bestätigt die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Sara Zeugmann, die ebenfalls an der Charité arbeitet. Die Medikamente weiter zu nehmen sei dann wichtig, „denn nur teilweise gebesserte Patienten bekommen schneller einen Rückfall“, warnt der Oberarzt Arnim Quante.
Oft machen die Mittel es überhaupt erst möglich, dass eine weitere wichtige Säule der Therapie ihre stützende Wirkung entfalten kann: die Psychotherapie. Sie soll den Patienten zu mehr Abstand und einem anderen Blick auf die Zusammenhänge verhelfen.
Diese Distanz ist nicht nur für Betroffene hilfreich. Auch die Angehörigen von Menschen mit schweren Depressionen brauchen von Zeit zu Zeit Abstand. „Die negative Sichtweise kann ansteckend wirken, man muss auf sich achten, damit man nicht mit hineingezogen wird“, warnt die Psychotherapeutin Zeugmann.
Erst als es ihm allmählich besser ging, wurde Olaf bewusst, was seine Frau die ganze Zeit hatte aushalten müssen. Schließlich hat auch sie monatelang ihre Nächte in einem Schlafzimmer verbracht, in dem ein Suizidhilfsmittel von der Decke hing.
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