Prekäre Beschäftigung in der Wissenschaft: "Lehrbeauftragte arbeiten oft für drei Euro pro Stunde"
Die große Koalition ignoriert 90.000 Lehrbeauftragte mit Hungerlöhnen, schreibt Peter Grottian in einem Gastbeitrag. Er fordert ein Förderprogramm.
Unis und Forschungsinstitute sollen mit ihrem wissenschaftlichen Nachwuchs pfleglicher umgehen als bisher. Ein entsprechendes Gesetz hat die große Koalition jetzt durch den Bundesrat gebracht. Da werden einige vernünftige Dinge auf den Weg gebracht. Die Vertragszeiten für wissenschaftliche Mitarbeiter werden verlängert und das Hangeln mit Verträgen vom halben Jahr zum nächsten halben Jahr unterbunden. So wird der Missbrauch von Befristungen in der Wissenschaft eingedämmt. Aber zu welchen Bedingungen?
Während es im öffentlichen Dienst sonst völlig üblich ist, dass ein beginnender Hilfsreferent in einem Landesministerium, ein Lehrer in der Schule oder Referent in der Stadtverwaltung mit einem vollen Gehalt (A 12/13) beginnt, werden die wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Hochschulen nur mit halben oder Zwei-Drittel-Gehältern abgefertigt. Dazu schweigt der Bund und die Länder sowieso. In den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst klammern die Gewerkschaften und öffentlichen Arbeitgeber das Thema in struktureller Komplizenschaft aus.
Oft arbeiten sie für drei Euro die Stunde
Von der Politik vollkommen vergessen sind die 90.000 Lehrbeauftragten an den Hochschulen, die oft zu Drei-Euro-Stundenlöhnen arbeiten müssen. In den Bundestagsfraktionen wird wortreich versichert, man kenne natürlich die Nöte der Lehrbeauftragten, sie hätten aber nicht mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz gelindert werden können.
Dabei wäre eine brauchbare Lösung so einfach: Der Bund beschließt mit Zustimmung der Länder ein Förderprogramm für die Lehrbeauftragten der Hochschulen, das ihre Vergütung um 50 Prozent erhöht. Statt der derzeitigen rund 1600 Euro für zwei Semester, die für Lehrbeauftragte jeweils aufzuwenden sind und in den Hochschulhaushalten etwa 44 Millionen Euro ausmachen, wäre es eine angemessene Erhöhung. 88 Millionen sind ein lächerlicher Betrag für das, was die 90.000 Lehrbeauftragten in oft aufopfernder Weise leisten, um den Zusammenbruch des Lehrbetriebs zu verhindern.
Die Politik der Niedriglöhne darf nicht auf den Wissenschaftssektor übergreifen. Es passt nicht zum Wissenschaftsstandort Deutschland, wenn Wissenschaftler so niedrig bezahlt werden.
schreibt NutzerIn RVahrenkamp
Wo das Curriculum ächzt, wo Lücken auftauchen
Die Lehrbeauftragten sind nämlich die Ausputzer des defizitären Lehrbetriebs. Überall, wo das Curriculum ächzt, wo Lücken für prüfungsrelevante Lehrveranstaltungen auftauchen: Die Lehrbeauftragten schließen sie. Miserabel bezahlt mit 23 bis 28 Euro die Doppelstunde oder auch zum Nulltarif. Von wegen Mindestlohn, Frau Nahles. Blanke Ausbeutung. Aber die SPD hat sich für solche Menschen genauso wenig interessiert wie Uni-Präsidenten, die Hochschulrektorenkonferenz und die Bundeswissenschaftsministerin.
Sie halten das für überzogen? Nein, die Stundenlöhne für Lehrbeauftragte liegen tatsächlich oft bei drei Euro.
Der promovierte Sozialwissenschaftler, der die Entwicklung des Rechtsextremismus entschlüsseln will: Der muss schon 30 Bücher und 100 Fachaufsätze gelesen haben, bevor er auf dem aktuellen Stand ist. Und wenn er 40 Studierende in seinem Seminar sitzen hat und diese für ihre Hausarbeiten vorbereitet und die fertigen Arbeiten bespricht – dann kommt ein Hungerlohn heraus. Ein wirklicher Aufschrei ist auch von den Lehrbeauftragten nicht zu hören. Sie haben in der Regel Spaß an der Lehre, sie sind gegenüber den oft ergrauten Hochschullehrern das Elixier in der Lehre, von Studierenden oft vehement nachgefragt. Aber in der politischen Selbstorganisation sind die Lehrbeauftragten einzelkämpferische Individualisten. Der Protest, den die GEW im vergangenen Jahr organisiert hatte, ist weitgehend in sich zusammengefallen. Die Lebensverhältnisse von Lehrbeauftragten sind so fragil, dass dafür keine Zeit ist.
Teil des Skandals sind auch die Privatdozenten
Teil des Skandals um das diskriminierte wissenschaftliche Personal an den Hochschulen sind auch 3500 bis 4000 Privatdozenten. Diese hoch qualifizierten Personen mit einer Habilitation und einer Lehrbefähigung lässt die Politik einfach im Wartesaal sitzen. Sie müssen jedes Jahr, um ihre Lehrbefugnis zu erneuern, mindestens eine Lehrveranstaltung zum Nulltarif abliefern, völlig unabhängig von ihrer Einkommenssituation. Die Privatdozenten brauchen viele Jahre, um vielleicht doch noch berufen zu werden – aber die meisten stürzen irgendwie innerlich ab, zuweilen bis auf Hartz IV.
Auch hier wäre eine politisch-wissenschaftliche Lösung gut möglich: Wenn man die Privatdozenten nicht berufen kann, wäre es dem Bund leicht möglich, ein „Teilzeit-Professoren-Programm“ aufzulegen. Damit könnten diese Hochschullehrer auf 50-Prozent-Teilzeitstellen im Angestelltenverhältnis berufen werden, mit einer Lehrbelastung von vier bis Stunden zumutbar.
Beginnen könnte der Bund mit einem experimentierenden „Teilzeit-Professoren-Programm“ für 1000 Privatdozenten. Das wäre eine Kerze am Ende des Tunnels – und für 50 Millionen Euro ein ganz preiswertes Programm.
Der Autor war Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Peter Grottian
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