Meeresbiologie: Leben im Abgrund
Bizarre Unterwelt: Biologen haben damit begonnen, den unbekannten Kosmos der Tiefsee zu erforschen. Sie bringen hunderte neuer Arten mit - und viele Fragen.
Es war das Mega-Forschungsprojekt der viktorianischen Zeit: An Bord der „Challenger“ stachen 1872 sechs Forscher und 263 Soldaten in See. Außerdem an Bord: Tausende Liter hochprozentiger Alkohol, Gläser, Flaschen, Mikroskope und riesige Netze. Dreieinhalb Jahre lang sammelte die Expedition bizarre Lebewesen aus den Tiefen der Ozeane und vermaß gleichzeitig den Meeresboden. Das Ergebnis: Mehr als 4500 neu entdeckte Lebewesen und fast 30 000 Seiten Expeditionsbericht. Es war das erste Mal, dass das Leben der Weltmeere systematisch erforscht wurde und die Expedition konnte zahlreiche Mythen widerlegen. Etwa die, dass das Wasser in tausenden Metern Tiefe so dicht ist, dass selbst Kanonenkugeln nicht bis auf den Grund sinken. Oder die, dass es unterhalb von 600 Metern kein Leben gibt.
Inzwischen ist klar: Auch viele Kilometer unter der Wasseroberfläche leben noch Krebse, Würmer und Fische. Nur wissen wir bisher sehr wenig über diese Tiefseebewohner. „Wir kennen nur etwa 10 000 Arten da unten“, sagt Angelika Brandt, Meeresbiologin an der Universität Hamburg. Das ändert sich zurzeit. Denn in einem einzigartigen Forschungsvorhaben versuchen mehr als 2500 Forscher aus 85 Ländern, der Vielfalt des Lebens in den Meeren auf die Spur zu kommen. „Census of Marine Life“ nennt sich das Megaprojekt, das seit dem Jahr 2000 läuft. Mit Schiffen, Netzen, Robotern und Videokameras haben die beteiligten Wissenschaftler seither die Meere erforscht, von den Küsten, über die Zwielichtzone in 200 bis 1000 Meter Tiefe bis hin zu den unbekanntesten Orten der Welt in der Kälte der Eismeere und den dunklen Abgründen der Tiefsee. „Bekannte Arten zählen und neue Arten finden“, so beschreibt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven die Ziele des Census. Im Oktober endet diese „Volkszählung im Meer“. Aber schon jetzt berichten Forscher im Buch „Schatzkammer Ozean“ (Spektrum Akademischer Verlag, 256 Seiten, 39,95 Euro) über zahlreiche Ergebnisse und neue Arten.
Vor allem in der Tiefsee gibt es viel zu erkunden. Die ist immerhin der größte Lebensraum der Erde. Rund 60 Prozent der Erdoberfläche liegen mehr als einen Kilometer unter Wasser. „Da gibt es sicher noch ein oder zwei Millionen Arten zu entdecken“, sagt Pedro Martinez vom Forschungsinstitut Senckenberg in Wilhelmshaven. Manche Forscher reden gar von bis zu 30 Millionen Arten.
Um mehr über die Tierwelt der Tiefsee zu lernen, schicken die Forscher ferngesteuerte Roboter auf den Meeresgrund, die Proben sammeln. „Fast jedes zweite Tier, das wir da unten sammeln, ist eine neue Art“, sagt Martinez. Das bedeutet aber keineswegs, dass das Leben in der Tiefsee kreucht und fleucht. „Wir haben sehr viele Arten, aber nur wenige Tiere“, erklärt der Meeresforscher. Das Leben muss sich seinen Platz in dem tiefen Totenreich hart erkämpfen. Die Sonnenstrahlen reichen nur in die obersten 200 Meter der Meere. Darunter gibt es kein Licht und damit keine Photosynthese, keine Pflanzen. Auf allem lastet hoher Druck, Sauerstoff ist Mangelware und was es an Nahrung gibt, ist im Dunkeln nur schwer zu finden.
Die Tiefseebewohner sind auf das angewiesen, was aus den oberen Schichten herunterschwebt: Kadaver und Kotbällchen. Und sie müssen einige Energie investieren, um Partner für die Fortpflanzung zu finden: „Wir haben viele neue Arten entdeckt, bei denen die Männchen sehr große Sinnesorgane haben, vermutlich um die Weibchen aufzuspüren", sagt Martinez. Manche Krebsmännchen werden auch ganz ohne Mundwerkzeuge oder Darm geboren. Sie verzichten ihr Leben lang auf Essen. „Die setzen alles auf eine Karte, schlüpfen aus dem Ei und versuchen dann, mit der Energie aus dem Dotter ein Weibchen zu finden und sich zu vermehren.“ So nehmen sie den Weibchen nicht die Nahrung weg.
Andere Tiefseebewohner gehen noch weiter. So konnten Forscher vor wenigen Wochen einen besonders spektakulären Fund verkünden: Sie haben im Mittelmeer winzige Tiere gefunden, die vollkommen ohne Sauerstoff leben. „Das ist wirklich überraschend“, sagt Brandt. „Offenbar ist unter weit extremeren Bedingungen als wir gedacht haben, noch mehrzelliges Leben möglich.“
Die Forscher finden bei ihren Expeditionen in die Tiefsee jedenfalls zahlreiche Tiere: nicht nur Krebse, sondern auch Seeigel, Fische und Seesterne. Und sie knüpfen an die Erkenntnisse der „Challenger“-Expedition an. Die hatte festgestellt, dass das Wasser im Südosten des Atlantiks fast zwei Grad Celsius wärmer ist als im Südwesten. Die Forscher wussten zwar, dass es einen hohen Rücken gibt, der den Atlantik in zwei Becken teilt, ihre Schlussfolgerung aber war neu: Offenbar musste es sich um ein regelrechtes Gebirge handeln, dass über Kilometer keine tiefen Schluchten aufweist, so dass sich das Wasser in der Tiefe kaum vermischt. Tatsächlich sind die Gebirgsketten bis zu 2000 Meter hoch und bilden so eine Barriere mitten in der Tiefsee. „Wir dachten deswegen, dass jedes Tiefseebecken seine eigene Tierwelt hat“, sagt Martinez. Aber die Census-Forscher fanden das Gegenteil: Auf der Ost- und Westseite der Gebirge leben dieselben Arten. „Offenbar können die Tiere über diese Rücken wandern“, sagt er. Wie, das ist noch nicht klar.
Neben hunderten neuer Arten bringen die Wissenschaftler also vor allem Fragen mit nach Hause. So streiten Forscher bis heute darüber, ob die meisten Tiefseearten wirklich aus der Tiefsee kommen. „Manche glauben, dass viele Tiere sich gar nicht in der Tiefsee fortpflanzen, sondern nur durch Strömung von den Kontinentalhängen dorthin gelangen“, sagt Julian Gutt. Laut dieser Theorie fristen viele Tiefseebewohner dort unten nur ihr einsames Restleben. Dass die Tiefsee nicht wie ausgestorben wirkt, läge demnach nur daran, dass immer wieder neue Jungtiere von den Kontinentalhängen in die Tiefe driften. Für die These spricht unter anderem die Verteilung der Lebewesen in der Tiefsee. Denn je weiter Forscher sich von den Hängen entfernen, umso ärmer wird die Tiefseefauna.
Und auch die riesigen Tiere, die viele in der Tiefe vermuten und die als Vorlagen für mythische Seeungeheuer gedient haben könnten, bleiben rätselhaft. Die meisten Lebewesen, die die Forscher finden, sind winzig, nur wenige Zentimeter groß. Klein sein und mit wenig Nahrung auskommen, das ist für diesen Lebensraum eben eine gute Strategie. „Natürlich gibt es auch vereinzelte große Lebewesen“, sagt Martinez. Die seien aber selten. Dass in der Tiefsee auch riesige Tintenfische leben, wissen die Forscher inzwischen. Martinez hält es für möglich, dass es auch noch andere gigantische Meeresbewohner gibt. „Wir haben immer noch weniger als ein Hundertstel der Tiefsee erforscht“, sagt er.