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Paradies in Gefahr. Auf den Pazifischen Inseln sind weitaus mehr Vögel verschwunden als bislang angenommen, ergab eine neue Untersuchung. Das Bild zeigt die Pororari-Schlucht auf der Südinsel Neuseelands.
© IMAGO

Artensterben: Leben auf der Roten Liste

Das Beispiel der Pazifischen Inseln zeigt, dass der Mensch die Artenvielfalt stärker gefährdet als gedacht.

Das Leben auf unserem Planeten ist permanent in der Krise. Weil in der Erdgeschichte wenigstens fünf Mal das Leben auf unserem Planeten fast ausgelöscht wurde, könnte man das regelrechte Massensterben von Arten für den Normalfall der Evolution halten. Biologen betonen oft, dass solche Katastrophen und Krisen geradezu zum Leben dazugehören – und dass der Tod auf diese Weise neues Leben hervorbringt.

Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass wir uns bereits mitten in einem weiteren, dem sechsten Massensterben befinden. Arten verschwinden, weil wir weltweit deren Lebensräume zerstören, das Klima verändern und fremde, invasive Arten und Krankheiten über den Globus verschleppen. Angesichts der derzeitigen Artenverluste befürchten viele Fachleute, dass Umfang und Geschwindigkeit dieses jüngsten Artensterbens bereits in naher Zukunft die Dimension jener erdgeschichtlichen Massensterben erreichen könnte, bei denen regelmäßig rund 75 Prozent oder mehr der damals lebenden Arten vernichtet wurden.

In jedem Fall hat das jüngste Artensterben eine neue Qualität. Denn diesmal ist allein der Mensch Ursache für den globalen Verlust der Biodiversität. Seit der Mensch auf seine Umwelt einwirkt und vor allem mit seiner Ausbreitung über den gesamten Globus wurden sowohl in früheren Zeiten als auch in der Gegenwart viele Lebensräume zerstört, gingen mehr und mehr Arten verloren.

Wie groß das Artensterben allerdings tatsächlich ist, lässt sich mit genauen Zahlen nur für wenige Tiergruppen belegen. So sind seit der Entdeckung der Neuen Welt um 1500 weltweit 150 der insgesamt 10 064 Vogelarten ausgestorben. In dieser Zeit sind sicher 130 Arten verloren gegangen, vier weitere gibt es nicht mehr in der freien Wildnis und für noch einmal 15 der 197 vom Aussterben bedrohten Vogelarten konnten jüngst keine Nachweise mehr erbracht werden.

Auf Haiti wurden die meisten Vögel ausgerottet, als die Europäer kamen

Als Gradmesser für Veränderung dienen den Artenforschern vor allem Inseln, die als Freilandlaboratorien der Evolution gelten. Unlängst fand man anhand der Auswertung von fossilen Vogelknochen in Höhlen auf der Karibikinsel Haiti, dass die Vogelwelt dort nicht plötzlich mit dem ersten Auftauchen des Menschen vor 6000 Jahren ausgelöscht wurde. Viele Vögel überlebten die Ankunft von Menschen amerikanisch-indianischer Herkunft. Vielmehr wurden die meisten Arten zwischen 1350 und 1800 ausgerottet, als europäische Eroberer und Einwanderer gemeinsam mit den Nachfahren der aus Afrika herbeigeschafften Sklaven der Vogelwelt erheblich zusetzten, den Lebensraum veränderten und fremde Arten einschleppten.

Vor allem im Pazifik machte der Mensch die dortigen Inseln zu regelrechten Friedhöfen der Artenvielfalt. Anders als auf Haiti sind auf Inseln wie Neuseeland, auf Hawaii und in Französisch-Polynesien bereits mit dem ersten Auftauchen des Menschen viele nur dort heimische Arten ausgelöscht worden. Jüngst haben Forscher um den australischen Ökologen Richard Duncan von der Universität Canberra ermittelt, dass im Fall Polynesiens mit 1000 bis 1300 Arten weitaus mehr Vögel verschwanden als angenommen. Gerade wenn man die Meeres- und Singvögel mit berücksichtige, müsse man von einem größeren historischen Artenverlust ausgehen, schreibt Duncan im Fachblatt „PNAS“ (Band 110, Seite 6436). In die Studie flossen Zahlen zu fossilen Vögeln von 41 pazifischen Inseln ein. Demnach gingen dort zwei Drittel aller Populationen zwischen der Erstankunft des Menschen und dem Auftauchen der ersten Europäer verloren. Und zwar hauptsächlich, weil die Polynesier die Lebensräume dieser Inseln stark veränderten und die Tiere jagten.

Manches spricht dafür, dass jedes Jahr eine Vogelart ausstirbt

Ökologen nehmen an, dass durchschnittlich alle vier Jahre eine Vogelart ausstirbt. Das wäre menschengemacht deutlich mehr als normales Aussterben, bei dem etwa eine Vogelart pro Jahrhundert verschwindet. Doch die Geschwindigkeit nimmt zu, wie Forscher um Stuart Pimm von der Duke-Universität in Durham ermittelten. Sie glauben, dass wir eine Vogelart pro Jahr verlieren.

Die Berichte der International Union for Conservation of Nature zeigen, dass inzwischen nicht nur auf kleinen Inseln lebende Vogelarten oder solche mit geografisch begrenzten Vorkommen bedroht sind. Während bis vor Jahrzehnten fast ausschließlich Arten in intensiv genutzten Lebensräumen betroffen waren, hat sich auch die Bestandssituation von weit verbreiteten Vogelarten verschlechtert. Das Artensterben hat mehr als früher ganze Kontinente erfasst. Mittlerweile gehen sogar die Bestandszahlen auch einstiger Allerweltsarten wie etwa beim weitverbreiteten Haus- und Feldsperling dramatisch zurück. Der Artenschwund ist damit kein Phänomen abgelegener Inseln mehr, sondern hat wie bei den historischen Massensterben globale Ausmaße angenommen.

Matthias Glaubrecht

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