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Gedenkort. Vor zehn Jahren begann die Suche nach einem Erinnerungsort, gefunden wurde er auf dem Luisenkirchhof III in Charlottenburg. In dem Bezirk gibt es die meisten Schnittstellen deutsch-preußischer und osmanisch-türkischer Geschichte.
©  Tessa Hofmann/promo

Opfer des osmanisches Völkermords: Langer Kampf um das Gedenken

An die Opfer des osmanischen Völkermords wird jetzt auch mit einer Gedenkstätte auf einem Friedhof in Charlottenburg erinnert. Der Weg dahin war schwierig.

Musadag, Iznik, Nusaybin, Kayseri, Ordu, Egin, Tokat. Schwarz leuchten die Buchstaben auf den weißen Kalksteinplatten. Es ist still auf dem Luisenkirchhof III am Fürstenbrunner Weg in Charlottenburg. Die Sonne funkelt durchs Blätterdach der alten Bäume, ein paar Vögel zwitschern. An der Westseite des Friedhofsgeländes, vor der sogenannten Erbbegräbniswand – den opulenten Familiengräbern aus dem späten 19. Jahrhundert –, steht eine rostige Stahlplatte. „Gedenkt der Opfer des osmanischen Genozids 1912-1922“ lautet die Inschrift. Davor liegen die Platten mit den 68 Ortsnamen. Dort lebten die Menschen bis zu ihrer Vertreibung und Ermordung.

Dass in Berlin der Opfer von Völkermord gedacht wird, ist selbstverständlich. Allerdings gilt das vor allem für die Opfer der deutschen Geschichte. Aber ein Erinnerungsort für diejenigen, die vor rund hundert Jahren auf dem Gebiet der heutigen Türkei zu Tode kamen? „Das war sehr schwierig umzusetzen“, sagt Tessa Hofmann, eine der ehrenamtlichen Initiatorinnen der Gedenkstätte. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Osmanische Reich ein Vielvölkerstaat, in dem viele Christen lebten: Armenier, Aramäer, Assyrer, Chaldäer sowie griechisch-orthodoxe Christen aus Pontos, Kleinasien und Ost-Thrakien. Viele von ihnen starben während des ersten Weltkriegs bei systematischen Massakern, Todesmärschen oder durch Zwangsarbeit. Über die Zahl der Opfer gibt es nur Schätzungen, sie liegt bei um zwei Millionen.

Eine Gedenkstätte im öffentlichen Raum war nicht durchsetzbar

Trotzdem war es ein mühsamer Prozess, bis die Nachkommen, die heute zahlreich in Deutschland leben, in Berlin einen Ort der Trauer errichten durften. „Wenn Minderheiten ihre Erinnerungskultur im neuen Heimatland realisieren wollen, stößt das meist auf großen Widerstand“, erklärt Hofmann, die lange am Osteuropa-Institut der Freien Universität über Migration geforscht hat. „Es ist die Mehrheit, die bestimmt, was, wo und wie intensiv erinnert wird.“ Als das Organisationskomitee „Mit einer Stimme sprechen!“ vor rund zehn Jahren nach einem Ort für eine ökumenische Gedenkstätte zu suchen begann, war der Wunsch der Nachkommen eindeutig. Ein Mahnmal im Zentrum der Stadt sollte es werden, möglichst prominent neben einer Berliner Sehenswürdigkeit platziert. Die Initiative machte etliche Vorschläge: Schloss Charlottenburg, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Lietzenseepark, Mierendorffplatz. „Jedes Mal wurde uns gesagt, das ginge nicht. Es bestünde die Gefahr, dass der Ort geschändet wird.“ Teile der muslimischen Bevölkerung Berlins, so die Befürchtungen des Bezirks, könnten sich provoziert fühlen.

Eine Gedenkstätte im öffentlichen Raum sei derzeit in der Hauptstadt nicht durchsetzbar – so sieht das Hofmann. Daran hat auch die Resolution des Deutschen Bundestags von 2016, bei der erstmals explizit von einem „Völkermord“ an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reichs die Rede ist, wenig geändert. „Wir wurden an die Friedhofsverwaltung verwiesen“, sagt die 68-Jährige. Friedhöfe unterstehen den Kirchen, sind nur semi-öffentliche Räume. Bei einer Vorortbegehung stößt die Initiative 2011 auf die drei aufgelassenen Gräber. Einer der alten Grabsteine trägt neoromanische, ein anderer neoklassische Elemente. Der dritte Stein wird von einem Kreuz geschmückt, das an das syrisch-orthodoxe erinnert. Vertreter von Armenier, Aramäern und der griechisch-orthodoxen Christen finden spontan Anknüpfungspunkte. „So entstand die Idee, diesen Teil der historischen Erbbegräbniswand zur Gedenkstätte umzugestalten.“

In Charlottenburg sind die meisten historischen Schnittstellen

Dass der Kirchhof in Charlottenburg liegt, ist kein Zufall. Es ist der Bezirk, in dem sich die meisten Schnittstellen zwischen der deutsch-preußischen und der osmanisch-türkischen Geschichte finden. In der Hardenbergstraße wird 1921 der ehemalige Innenminister der jungtürkischen Regierung, Talaat Pascha, von einem armenischen Studenten erschossen. Heute ist in Charlottenburg die armenische Botschaft untergebracht. Auch zwei der drei armenischen Gemeinden haben ihren Sitz in dem Bezirk.

Seit 2012 wird an der ökumenischen Gedenkstätte nun gebaut, noch ist die Initiative nicht ganz fertig. Sitzgelegenheiten fehlen noch, ebenso eine Informationstafel für die Friedhofsbesucher. Bereits montiert auf den Grabsteinen sind sechs historische Fotografien: Männer, die abgeführt werden. Eine Deportierte, die ein Kind im Arm trägt. Verbrannte Manuskripte. Im Zuge des Völkermordes sind Kirchen und Klöster mit bedeuteten Bibliotheken zerstört worden. „Es geht uns einerseits darum, an die Millionen Toten zu erinnern“, sagt Hofmann. „Andererseits auch um das verlorene kulturelle Erbe.“ Bis heute sei der Völkermord und der damit verbundene Verlust von Heimat und kultureller Identität eine „offene Wunde“ für die Nachkommen. „Das ragt in die Gegenwart hinein.“

Wissenschaftlerin Hofmann – die selbst keine biografischen Bezüge zu den Ereignissen vor hundert Jahren hat – ist sich sicher, dass nur durch Aufarbeitung Heilung und Versöhnung entstehen kann. Der reale Gedenkort hat dabei eine wichtige Funktion: Hier können Kerzen angezündet, Kränze niedergelegt und Trauergottesdienste abgehalten werden. Parallel dazu will Hofmann auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung vorantreiben. Eine virtuelle Gedenkstätte soll die auf dem Luisenkirchhof ergänzen. Auf einer englischsprachigen Webseite (http://www.virtual-genocide-memorial.de), die in einigen Monaten online geht, werden möglichst viele Ortsnamen innerhalb des Osmanischen Reichs aufgelistet. Zu den Orten will Hofmann Informationen zusammengetragen: Welche Christen haben dort gelebt? Gab es Künstler, Schriftsteller, Architekten, bedeutende Kaufleute?

„Wir wollen aufzeigen, dass die christlichen Gruppen einen entscheidenden Beitrag zur Kultur des Osmanischen Reichs geleistet haben.“ Außerdem soll die systematische Vernichtung regional dokumentiert werden. Anders als bei einem ähnlichen Berliner Forschungsprojekt, dem Portal www.houshamadyan.org, wird dabei nicht nur die Geschichte der Armenier, sondern die aller christlicher Gruppierungen berücksichtigt.

Mündlich würden Geschichten der Armenier seit Jahrzehnten weitergegeben

Wenn die Website technisch steht, hofft Hofmann auf Mithilfe aus aller Welt. „Wir werden Privatpersonen, Wissenschaftler und Organisationen bitten, uns Fotos und biografische Dokumente zur Verfügung zu stellen.“ Vor allem sucht Hofmann nach neuen Primärquellen. „Vieles existiert noch in den Familien“, sagt sie. Mündlich seien die Geschichten über die Jahrzehnte weitergegeben worden. „Erst die Nachkommen der dritten oder vierten Generation schreiben sie jetzt auf.“ Aus den verschriftlichten Erinnerungen ergeben sich neue Forschungsfragen. „Der Genderaspekt ist beispielsweise bislang kaum berücksichtigt worden“, sagt Hofmann. Der Genozid verlief sehr unterschiedlich, wenn man die Schicksale von Frauen und Männern vergleicht. Während die Männer meist sofort ermordet wurden, erlitten Frauen und Kinder Verschleppung und Versklavung. Hier will Hofmann in den nächsten Jahren weiterforschen. „Und die Webseite soll helfen, bisher nicht bekannte Details des Genozids ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.“

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