zum Hauptinhalt
Mutmaßungen. Kunsthistoriker Seracini vermutet hinter einem Vasari-Fresko in Florenz ein Gemälde Leonardos. Doch Vasari erwähnte das Original nicht in einschlägigen Schriften.
© picture alliance / dpa

Leonardo da Vinci: Kritik an "Sensationsfunden"

Eine zweite Mona Lisa, ein unbekannter „Salvator Mundi“, ein Gemälde hinter dem Fresko? Kritische Anmerkungen zu Leonardo-„Sensationsfunden“ aus der jüngsten Zeit.

Sensationelle Meldungen zu Kunstwerken Alter Meister sind selten. Doch in jüngster Zeit finden sie sich häufiger – sogar in der Boulevardpresse. So zuletzt im Fall von Leonardo da Vinci. Und dies gleich dreifach. Zunächst wurde in London im November 2011 ein bislang nicht Leonardo zugeordnetes Gemälde als ein solches ausgestellt, ein Bild Christi als Weltenretter, der „Salvator Mundi“. Dann machte die Entdeckung einer „zweiten“ „Mona Lisa“ im Depot des Madrider Prado Furore. Die Ausstellung dieser Kopie im Pariser Louvre, der das Original bewahrt, im Rahmen der derzeitigen Ausstellung zu Leonardo (bis 25. Juni) lässt erstmals einen unmittelbaren Vergleich zu. Und schließlich wurde verbreitet, ein vermeintlich seit 450 Jahren zerstörtes Wandbild von Leonardos Hand befinde sich noch im Florentiner Palazzo Vecchio, seine verborgene Existenz sei durch Mikrokameras belegt worden.

Drei Mal derjenige Künstler, der schon immer als der rätselhafteste und faszinierendste Künstler der Renaissance galt. Leonardo (1452-1519) war nicht nur Künstler, er war zugleich Naturforscher, Ingenieur und ein seiner Zeit weit vorauseilender Erfinder – der archetypische uomo universale der Renaissance. Er nahm im Geiste Ergebnisse vorweg, die auszuführen er seinen Händen die Zeit nicht ließ. Er experimentierte und ließ angefangene Arbeiten liegen, deren mangelhafte Technik ihn entmutigte und deren Ergebnisse seinem Perfektionsdrang nicht genügten. Oder er überließ die Handarbeit gleich seinen Assistenten.

Das gilt wohl auch für das Gemälde des „Salvator Mundi“, das die Londoner National Gallery als eigenhändige Schöpfung Leonardos aus den Jahren um 1500 präsentierte. Die Leihgabe aus Privatbesitz erwies sich jedoch, vergleichen mit den eigenen Leonardos des Museums, als Enttäuschung. Natürlich reicht die spontane Reaktion eines Mona-Lisa-verwöhnten Publikums nicht hin, über die Authentizität eines vielleicht unvollendeten, zumindest stark in Mitleidenschaft gezogenen Gemäldes zu urteilen. Die gelehrte Interpretation des Londoner Katalogs, die Teile des Gemäldes wegen ihrer stupenden Könnerschaft lobt, das starre, geradezu leblose Antlitz Christi indes als bewusst „archaisch“ rechtfertigt, hat die Lehrmeinung nicht umstoßen können. Sie besagt, dass von Leonardos einst vorhandenem „Salvator“-Bild lediglich Kopien blieben, von denen das in London gezeigte Bild eine ist, wenn auch die bislang überzeugendste.

Leonardos malerisches Werk ist, im Unterschied zu seinen zeichnerischen Arbeiten, ausgesprochen schmal. Nur dreißig Werke können als eigenhändig gelten. Sie verteilen sich auf vier Jahrzehnte, mithin auf die gesamte Spanne von Leonardos Tätigkeit. Dabei sind sogar Arbeiten mitgezählt, die längst verschollen und allein in zeitgenössischen Kopien überliefert sind. Um eine solche Kopie handelt es sich bei der zweiten „Mona Lisa“ aus dem Bestand des Madrider Prado. In Fachkreisen war das Tafelbild bekannt. Zur Sensation wurde es durch die dank sorgfältiger Restaurierung gewonnene Erkenntnis, dass es sich um eine Kopie handelt, die parallel zu Leonardos Schaffensprozess angefertigt wurde. Sie weist Korrekturen auf, die Leonardo eigenhändig am Original vorgenommen hat. Ein späterer Kopist hätte von solchen Veränderungen keine Kenntnis gehabt. Der Leipziger Kunsthistoriker Frank Zöllner schlussfolgert auch aus diesem Bild, warum es so wenige Originale gibt: Leonardo „malte offenbar immer weniger selbst, sondern er ließ malen“.

Nächste Seite: Von Leonardos Florentiner Wandbild ist nur eine Vorstudie erhalten.

Am geheimnisumwittertsten stellt sich die Suche nach dem Wandbild dar, das Leonardo auf eine der beiden Längswände des gewaltigen Großen Ratssaales im Palazzo Vecchio gemalt hat, Regierungssitz der Florentiner Republik und spätere Residenz des toskanischen Herzogs. Das Bild stellte die „Schlacht von Anghiari“ dar, den Sieg der Florentiner über die Truppen des Herzogtums Mailand im Jahr 1440, der die Unabhängigkeit der bedrohten Republik sicherte. Diesen Sieg wollte die Stadtregierung durch ein Wandgemälde würdigen, mit dem Leonardo 1503 beauftragt wurde. Im Juni 1505 begann Leonardo die Arbeit an der Wand, nachdem er zuvor einen maßstabsgerechten Karton für die mittlere Szene angefertigt hatte.

Doch bereits ein knappes Jahr später ließ Leonardo das Wandbild unvollendet zurück. Sehr weit dürfte es kaum gediehen sein. Statt der bewährten Freskomalerei versuchte sich der Künstler in einer neuen Technik. Ein Fehlschlag: Die Farbe fiel buchstäblich von der Wand.

Immerhin ist die zentrale Szene der Komposition, die „Eroberung der gegnerischen Fahne“ in einem Kampf jeweils zweier Reiter der feindlichen Truppen, durch ein kleinformatiges Tafelbild überliefert, das lange Zeit als eigenhändige Vorstudie galt. Frank Zöllner, dessen Oeuvrekatalog der Gemälde und Zeichnungen Leonardos in einer sensationell preisgünstigen Ausgabe greifbar ist (Taschen-Verlag, Köln 2011, 700 S. in zwei Bänden, 19,99 Euro), hält die Tafel für eine Kopie nach den wenigen, bis 1506 bereits ausgeführten Partien des Wandbildes. Andere Experten gehen aufgrund der exzellenten Darstellung der vier Reiter von einer eigenhändigen Vorstudie aus.

Die Szene der ineinander verknäuelten Reiter muss als eine der ganz großen Leistungen der Renaissancemalerei angesehen werden. Von ihr gibt eine in Mischtechnik ausgeführte Kopie im Pariser Louvre eine Ahnung, an die ein halbes Jahrhundert später noch Rubens Hand angelegt hat. Die komplizierten Körperdrehungen der Reiter, ihre ausdrucksstarken Physiognomien wie auch zahllose mythologische Details zeigen ein ungemein reiches Bedeutungsgefüge. In ihrer Dynamik wurde die „Anghiarischlacht“ zu einem prägenden Vorbild der späteren, weltlichen Historienmalerei.

Spätestens ab 1550 wird das Wandbildprojekt zum Rätsel. Der Medici-Herzog Cosimo I., der alle Spuren der ihm verhassten Republik zu tilgen suchte, beauftragte seinen Hofkünstler Giorgio Vasari mit der Umgestaltung des Palazzo Vecchio zur herzoglichen Residenz. Das Werk Leonardos – wenn es denn überhaupt noch zu erkennen war – übermalte Vasari 1563, der den ganzen Saal zur Verherrlichung des Fürsten ausgestaltete.

So sehr Vasari den ein halbes Jahrhundert älteren Leonardo bewunderte und in seinen berühmten „Künstlerviten“ würdigte, so wenig konnte er sich dem herzoglichen Auftrag widersetzen. Interessanterweise beschreibt Vasari die Komposition des „Kampfes um die Fahne“ in seinem Buch sehr genau, bezieht sich aber allein auf den Karton und erwähnt das Wandbild mit keiner Silbe. Hatte Vasari, als er die Viten 1568 in erweiterter Fassung veröffentlichte, das Wandbild überhaupt je gesehen? Und wenn, dann doch wohl in verdorbenem Zustand?

Ein altes Gerücht besagt, dass Vasari heimlich eine Mauer vor das Werk des Leonardo habe setzen lassen. Auf diese Legende gründen die winzigen Bohrungen in die Wand des Vasari-Freskos. Wenn das Gerücht Substanz hätte, müssten sich Partikel des einstigen Farbauftrags finden lassen. Eben das glaubt der Kunsthistoriker Maurizio Seracini mit Hilfe mikroskopischer Sonden ausgemacht zu haben. Ob solche Partikel allerdings den Schluss erlauben, es sei das Wandbild Leonardos „entdeckt“ worden, ist die Frage. Nur die Beseitigung des Vasari-Freskos würde den Blick auf die gesamte, enorme 120 Quadratmeter große Wandfläche erlauben, die Leonardo zugewiesen war.

Eine andere Frage ist in dem Wirbel um die vermeintliche „Sensation im Palazzo Vecchio“ untergegangen. Wenn doch Leonardos Kompositionen bereits von den Zeitgenossen als so außerordentlich angesehen wurden, dass sie in kürzester Zeit durch Kopien Verbreitung fanden, wie im Fall der „Mona Lisa“ – wieso ist dann ausgerechnet das monumentale Hauptwerk des Malers so lückenhaft dokumentiert? Fast sechzig Jahre lang war das Zeugnis von Leonardos Genie und Scheitern doch öffentlich zugänglich.

Wie man es dreht und wendet, Leonardos Werk bleibt rätselhaft. Was über ihn bekannt ist, fügt sich zu nicht mehr als einem Fragment, wie es das Florentiner Wandbild bestenfalls gewesen ist.

Bernhard Schulz

Zur Startseite