"Pflege ist nicht einfach": Krankenschwestern an die Unis
Der medizinische Fortschritt ist rasant, Aufgaben in der Krankenversorgung werden immer komplexer. Der Wissenschaftsrat will daher Gesundheitsberufe an Hochschulen etablieren. Pflege-Studierende sollen gemeinsame Kurse mit klassischen Medizin-Studierenden belegen.
Eine Krankenschwester ohne Studium – was für die Öffentlichkeit selbstverständlich klingt, ist für den Wissenschaftsrat längst überholt. Denn angesichts des rasanten medizinischen Fortschritts muss das Pflegepersonal immer komplexere Aufgaben übernehmen. Deshalb sollen nach dem Willen des Wissenschaftsrats künftig auch Pflegekräfte, Hebammen, Physio-, Logo- und Ergotherapeuten ein Studium absolvieren – zumindest zehn bis 20 Prozent eines Ausbildungsjahrgangs, um sie für besonders anspruchsvolle Aufgaben zu schulen.
„Wir stehen vor dramatischen fachlichen und gesellschaftlichen Veränderungen“, sagte der Neurologe Hans-Jochen Heinze, als er am Montag die Empfehlung des wichtigsten Wissenschafts-Beratungsgremiums für Bund und Länder in Berlin vorstellte. Heinze ist Vorsitzender des Medizinausschusses des Wissenschaftsrats. Um die Qualität der Krankenversorgung zu verbessern, sei es notwendig, die Gesundheitsfachberufe zu akademisieren. „Pflege ist nicht einfach“, betonte Heinze. Implizit dürfte das auch als Kritik an Vorschlägen aus der Politik zu verstehen sein, Arbeitslose in dem Bereich einzusetzen, steht dahinter doch die Vorstellung, Pflege sei quasi im Handumdrehen zu lernen.
Besonders verändert es den medizinischen Alltag, dass Menschen immer länger leben. „Alte haben andere Krankheiten“, sagte Heinze. So sind sie vor allem chronisch krank. Bei Alzheimer-Patienten etwa seien Ärzte gar nicht mehr ständig gefragt, schließlich müsse nicht dauernd die Diagnose geändert werden: „Ein Alzheimer ändert sich prinzipiell nicht.“
Vielmehr spielten Pflegekräfte, Ergo- und Physiotherapeuten für diese Patienten eine viel größere Rolle. Da geht es um Fragen, wie die Behandlung an den Krankheitsverlauf angepasst werden muss, ob etwa eine Prophylaxe gegen Wundliegen nötig ist. Heinze schwebt das Ideal des „Reflective Practitioners“ vor, also der reflektierenden Fachkraft. Diese entscheidet evidenzbasiert und stellt das eigene Handeln auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder infrage. „Auf diese Eigenschaften werden Gesundheitsfachkräfte in der Regel nicht vorbereitet“, sagte Heinze. Auch für den Laien scheinbar simple Fragen wie Fiebermanagement oder Mundpflege würden heute wissenschaftlich diskutiert. Länder wie Großbritannien oder Schweden seien da viel weiter.
Mehr als eine Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in Gesundheitsfachberufen. Die meisten absolvieren eine dreijährige Ausbildung an einer berufsbildenden Schule. Deren Qualität sei „sehr heterogen“, oft verfügten sie nur über wenig akademisch ausgebildete Lehrkäfte, kritisiert der Wissenschaftsrat. Anders machen es bisher einige wenige, oft private Hochschulen, die Studiengänge im Gesundheitsbereich anbieten. Doch noch ist nur eine von 30 Fachkräften in den Pflegeberufen akademisch gebildet, eine von zehn in den Therapieberufen, eine von fünf Hebammen.
Der Wissenschaftsrat empfiehlt, das Angebot an grundständigen Bachelor-Studiengängen auszubauen. In der Pflege sollten Hochschulen bis zu 5400 neue Studienplätze einrichten, in den Therapieberufen bis zu 1100, für künftige Hebammen bis zu 50. Offen bleibt, wer das bezahlen soll. Als „Hausmarke“ nannte Heinze 50 000 Euro pro Studienplatz in einem sechssemstrigen Studiengang, was über den Kosten für ein naturwissenschaftliches Studium liegt.
Der Wissenschaftsrat will das Studium für die Gesundheitsberufe mit dem klassischen Medizinstudium verschränken. So könnten Gesundheitsstudiengänge an Universitäten unter dem Dach einer medizinischen Fakultät entstehen. Ein anderes Modell sieht „Gesundheitscampus“ vor, auf denen Fachhochschul-Studiengänge mit einer nahe gelegenen Uni kooperieren. Pflege- und Medizin-Studenten sollten gemeinsame Kurse belegen. „Die Studierenden sollen von Beginn an auf Augenhöhe miteinander umgehen“, sagte Heinze. Offenbar hofft der Wissenschaftsrat so auch, die oft hierarchische Welt der Krankenhäuser aufbrechen zu können. Gestärkt werden soll ebenfalls die klinische Versorgungsforschung.
In Bochum funktioniert das Zusammenspiel schon, wie Anne Friedrichs, Präsidentin der Hochschule für Gesundheit in Bochum, berichtete. Diese bildet Krankenschwestern und Therapeuten aus. Die Bochumer arbeiten in ersten Kursen mit dem Medizinstudiengang der benachbarten Ruhr-Universität zusammen. „Wir erleben da große Offenheit vonseiten der Uni“, sagte Friedrichs. Werden so womöglich verkopfte Pflegekräfte ausgebildet, die nicht mehr die wahren Bedürfnisse ihrer Patienten erkennen? Solche Ängste versuchte Heinze zu zerstreuen: „Wir wollen die Pflegeberufe nicht vom Bett wegqualifizieren.“ Die Arbeit am Patienten soll auch bei der akademischen Ausbildung im Mittelpunkt stehen.
Tilmann Warnecke
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