75 Jahre Vereinte Nationen: Kooperation statt Konfrontation
Vor 75 Jahren wurden die Vereinten Nationen gegründet. Die Organisation ist ein Grundpfeiler der liberalen Weltordnung, und ihre Verteidigung gerade heute besonders wichtig.
A m 26. Juni 1945 kommen Abgesandte von 50 Staaten in San Francisco zusammen, um die gerade fertiggestellte Charta der Vereinten Nationen zu unterzeichnen. Nur wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa wird damit die Grundlage für ein neues Völkerrecht geschaffen. Das Ziel ist, wie es in der Charta eingangs heißt, „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen“. Verbrieft sind in dem Dokument die souveräne Gleichheit aller Staaten ebenso wie die individuellen Menschenrechte. Der Angriffskrieg wird verboten.
„Jahrhundertelang galt in den internationalen Beziehungen allein das Recht des Stärkeren“, sagt Thomas Risse. „Erst seit Gründung der Vereinten Nationen ist Gewalt in der internationalen Politik kein legitimes Mittel mehr.“
Grundpfeiler der liberalen Weltordnung
Thomas Risse ist Professor für Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und Principal Investigator im Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS). „Die Organisation der Vereinten Nationen ist ein Grundpfeiler der liberalen Weltordnung“, sagt er. „Es ist der Versuch, das friedliche Zusammenleben der Völker auf eine gemeinsame rechtliche und institutionelle Basis zu stellen.“ Bis heute werde daran gearbeitet, die Gründungsvision Schritt für Schritt auszubuchstabieren. Nach dem Prinzip „Kooperation statt Konfrontation“ sei ein weit verzweigtes System aus Institutionen und Verträgen entstanden, durch das die internationale Zusammenarbeit in einer Vielzahl von Politikbereichen koordiniert werde.
Heute gliedert sich die Arbeit der Vereinten Nationen in 18 Sonderorganisationen, darunter die Weltgesundheitsorganisation WHO und das Kinderhilfswerk UNICEF. Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO oder die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA sind verpflichtet, den Vereinten Nationen Bericht zu erstatten.
Eine Spannung im Aufbau, die bewusst angelegt ist
Die zentralen Organe der Vereinten Nationen sind die Generalversammlung und der Sicherheitsrat. In der Generalversammlung kommen jährlich Vertreterinnen und Vertreter der inzwischen 193 Mitgliedsstaaten zusammen. Sie verabschieden den Haushalt der Organisation und beschließen gemeinsam Resolutionen – völkerrechtlich nicht bindende politische Empfehlungen. Die eigentliche Entscheidungsgewalt liegt beim Sicherheitsrat. Er setzt sich aus fünf ständigen und zehn nichtständigen Mitgliedern zusammen. Die ständigen Mitglieder – China, Frankreich, Russland, die USA und das Vereinigte Königreich – genießen dabei ein erweitertes Vetorecht.
„In der Generalversammlung kommen die Mitgliedsstaaten als Gleichberechtigte zusammen“, sagt Simon Koschut. „Der Sicherheitsrat hingegen widerspricht dem für die Vereinten Nationen grundlegenden Gedanken der Gleichheit aller Staaten.“ Eine Spannung, die im institutionellen Aufbau der Vereinten Nationen bewusst angelegt sei, sagt der Politikwissenschaftler, der als Heisenberg-Stipendiat am Otto-Suhr-Institut unter anderem zur Geschichte von Sicherheitsgemeinschaften arbeitet: „Die Vorläuferorganisation – der von 1920 bis 1946 bestehende Völkerbund – ist auch an der mangelnden Akzeptanz durch die Großmächte gescheitert. Die Vereinten Nationen versuchen daher, sowohl den ideellen Anspruch der Gleichheit als auch die Realität der globalen Kräfteverhältnisse institutionell abzubilden.“
Inwieweit aber kann dieser Anspruch heutzutage noch eingelöst werden? „Die Zusammensetzung der Vetomächte repräsentiert das Kräfteverhältnis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges“, sagt Simon Koschut. „Die heute aufstrebenden Wirtschaftsmächte des globalen Südens – Brasilien, Indien und Südafrika – bleiben außen vor.“
In die Kritik gerate der Sicherheitsrat zudem, weil die Interessen der Großmächte nicht selten ein gemeinsames Vorgehen verhinderten. Während des Kalten Krieges sei die Arbeit der Vereinten Nationen über Jahrzehnte faktisch blockiert gewesen. „Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes kam es zu einer Welle der Euphorie“, sagt Simon Koschut. „Man glaubte, dass die Vereinten Nationen nun zu neuer globaler Stärke finden würden.“
Doch eine Reihe von blutigen Fehlschlägen habe die Hoffnungen schnell zunichte gemacht: Die Friedensmission UNAMIR greift nicht ein, als 1994 in Ruanda ein Völkermord mit geschätzt 800 000 bis einer Million Todesopfern verübt wird. Nur ein Jahr später sehen Soldaten unter UN-Mandat tatenlos dabei zu, wie die serbische Armee in der Gegend um die Stadt Srebrenica rund 8 000 bosnische Muslime massakriert. „Die zuständigen Kommandeure haben sich damals darauf berufen, keine Befugnisse zu einem Eingriff zu haben“, sagt Thomas Risse. „Die Vereinten Nationen sind immer nur so stark, wie die Mitgliedsstaaten es zulassen.“
Die liberalen Prinzipien der UN-Charta geraten weltweit unter Druck
Auch heute sei der Sicherheitsrat wieder in einer Patt-Situation. Im Syrienkrieg verhindere Russland seit vielen Jahren eine Friedensmission. Auch der Konflikt zwischen den USA und China drohe, sich weiter zuzuspitzen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des am Otto-Suhr-Institut angesiedelten Exzellenzclusters SCRIPTS untersuchen die gegenwärtigen Herausforderungen für die liberale Weltordnung derzeit eingehend. „Die liberalen Prinzipien, die in der UN-Charta einst verankert worden sind, geraten heute weltweit unter Druck“, sagt Thomas Risse. „Durch autoritäre Regierungen in Russland, China, Brasilien, aber zunehmend auch durch die USA.“
Es gelte nun, die Institutionen der Vereinten Nationen zu stärken – finanziell und personell, aber auch durch diskursive Unterstützung. „Die Vereinten Nationen sind etwas Kostbares. Sie sind die einzige globale Gemeinschaft, die wir haben“, sagt Thomas Risse. „Das muss man deutlich machen. Insbesondere ist hier auch die Bundesrepublik gefragt.“
Dennis Yücel