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Engagement für Kinder in Entwicklungsländern. Seth Berkley während einer Impfkampagne in Ghana
© Olivier Asselin

Gesundheitskampagne: „Jedes fünfte Kind ist nicht geimpft“

"Deutschland könnte mehr tun": Gavi-Chef Seth Berkley über teure Impfstoffe für arme Länder - und die Angst vor Nebenwirkungen. Ein Interview.

Herr Berkley, mehr als eine Million Kinder sterben jedes Jahr an Krankheiten, die durch eine einfache, billige Impfung verhindert werden können. Warum?
80 Prozent aller Kinder erhalten heute die grundlegenden sechs Impfstoffe. Das ist erst einmal ein großer Erfolg. Aber es heißt auch, dass jedes fünfte Kind nach wie vor nicht geimpft wird. In der Regel sind die Länder nicht zu arm, um dafür zu zahlen, sondern ihr Gesundheitssystem ist einfach nicht in der Lage, alle Kinder zu erreichen. In manchen Fällen kommt politische Vernachlässigung dazu. In Nigeria zum Beispiel werden im Süden viel mehr Kinder geimpft als im Norden. Das hat auch mit Politik zu tun.

Sie sind Chef von Gavi, einer Organisation, die es sich vor allem zur Aufgabe gemacht hat, Menschen in armen Ländern den Zugang zu neuen, teuren Impfstoffen zu ermöglichen.
Wir sind darin sehr erfolgreich. Wir haben zum Beispiel 200 Millionen Kinder in 72 Entwicklungsländern mit einem Kombi-Impfstoff behandelt, der gegen Diphterie, Tetanus, Keuchhusten, Hepatitis B und Haemophilus influenzae Typ B schützt. Ein anderes Beispiel: Bis 2020 wollen wir 30 Millionen Mädchen gegen humane Papillomaviren impfen, die Gebärmutterhalskrebs verursachen können.

Im vergangenen Jahr haben Sie sich entschieden, auch einen Cholera-Impfstoff einzulagern, um bei Ausbrüchen die Bevölkerung impfen zu können. Warum hat man das bisher nicht gemacht?
Zum einen war der Impfstoff bisher nicht besonders gut. Die Frage war also, ob man in einer Notfallsituation Zeit darauf verwenden sollte, viele Menschen mit diesem teuren nicht besonders guten Stoff zu impfen. Außerdem wusste man sehr wenig darüber, welche Menschen man wo impfen sollte.

Das hat sich geändert?
Wir haben jetzt einen besseren Impfstoff und mit dem wollen wir nun in Krisenfällen Erfahrungen sammeln. Und wir können dann auch Impfstoff, der in den Notfällen nicht gebraucht wurde und nicht mehr lange haltbar ist, nutzen, um Menschen in Ländern zu impfen, wo es immer wieder zu Ausbrüchen kommt, wie zum Beispiel im Moment in Haiti. So können wir einiges darüber lernen, wie hilfreich der Impfstoff in so einer Situation wirklich ist und welche Gruppen zuerst geimpft werden sollten.

Der Vorstand von Gavi trifft sich diese Woche in Berlin. Ist das auch ein Signal?
Wir sind teilweise hier, weil Deutschland ein wichtiger Partner ist. Wir arbeiten zusammen und in den letzten Jahren hat Deutschland seine Spenden erhöht. Aber wir diskutieren auch, wo unsere nächste Geberkonferenz stattfinden soll und darüber sprechen wir unter anderem mit der deutschen Regierung. Das wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Deutschland hat seit der Gründung von Gavi im Jahr 2000 insgesamt 156 Millionen Euro beigesteuert. Schweden und die Niederlande haben jeweils fast 300 Millionen Euro gespendet, Norwegen sogar mehr als 800 Millionen. Wünschen Sie sich mehr Unterstützung?
Deutschland könnte mit Sicherheit mehr tun, wenn es wollte. Und ich vermute, dass da auch Interesse besteht.

Von den 30 Millionen Euro, die Deutschland im vergangenen Jahr an Gavi überwiesen hat, waren 10 Millionen Euro speziell für Tansania vorgesehen. Eigentlich sind solche bilateralen Projekte bei Gavi nicht vorgesehen.
Ja, im Allgemeinen bitten wir Länder, Geld in einen großen Topf zu geben und dann mit uns zusammen an den Prioritäten zu arbeiten. Das ist effizienter. Bilaterale Projekte sind für Regierungen interessant, weil man dann eine Art Fußabdruck hinterlassen kann.

Aber sie haben Nachteile?
Wir haben dann weniger Flexibilität. Wenn es Verzögerungen gibt in Tansania, weil zum Beispiel ein Impfstoff nicht vorrätig ist oder es Probleme gibt mit der Kühlkette, können wir das Geld nicht anderweitig nutzen. Und unsere Größe hat Vorteile. Deutschland könnte alleine zum Beispiel niemals so niedrige Preise für die Impfstoffe aushandeln wie Gavi. Schließlich kaufen wir Impfstoffe für 60 Prozent der Kinder, die in einem Jahr geboren werden.

Wenn wir schon über die Preise sprechen: Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat im März kritisiert, dass Gavi für den Polioimpfstoff zwar einen niedrigen Preis für die ärmsten Länder ausgehandelt hat, andere aber deutlich mehr zahlen müssen.
Natürlich möchte ich, dass jedes Kind in der Welt geimpft wird, auch hier in Deutschland und natürlich möchte ich, dass das möglichst billig ist. Aber seien wir realistisch: Wenn Sie wollen, dass ein Unternehmen eine Fabrik baut, um Impfstoff herzustellen, dann muss sich das für das Unternehmen lohnen. Man könnte natürlich einen Preis für alle haben, aber dann wird der Preis sehr hoch sein. Oder man hat ein System, in dem die Ärmsten nur den Herstellungspreis zahlen und die Reicheren zahlen mehr. Für mich ist es klar, dass das besser ist.

Obwohl Impfstoffe so erfolgreich sind, haben sie einen erstaunlich schlechten Ruf. Letztes Jahr hatten wir in Deutschland zum Beispiel 1775 Masernfälle. Dabei wären die leicht zu verhindern gewesen.
Ein großes Problem ist, dass viele Eltern diese Krankheiten, gegen die sie die Kinder impfen sollen, nie gesehen haben. Meine Frau ist Ärztin auf der Intensivstation eines großen Krankenhauses in den USA und sie hat nie einen Fall von Masern gesehen. Ich war in einem Flüchtlingslager im Sudan und habe erlebt, wie eine Masernepidemie da durchgefegt ist. Ich habe die kleinen Gräber für die Kinder gesehen, die gestorben sind.

Viele Menschen haben Angst vor Nebenwirkungen.
Klar. Ich habe vor kurzem meine Kinder mitgenommen nach Afrika und ich musste sie vorher gegen Gelbfieber impfen. Warum habe ich das gemacht? Weil ich Menschen an Gelbfieber habe sterben sehen. Das ist nicht schön. Die Todesrate liegt bei 40 Prozent und es gibt keine Behandlung. Man sitzt nur da und wartet, ob der Patient durchkommt.

Aber Sie haben sich auch Gedanken gemacht über Nebenwirkungen?
Als ich sie geimpft habe, bin ich ein bisschen zusammengezuckt innerlich und habe sie genau beobachtet, weil ich mir Sorgen gemacht habe, dass sie krank werden könnten. Impfstoffe sind heute ungeheuer sicher. Haben sie einige Nebenwirkungen? Ja klar. Aber man muss Risiken und Nutzen abwägen.

Laut Weltgesundheitsorganisation sterben heute 63 Prozent der Menschen an nicht übertragbaren Krankheiten. Ist es Zeit sich auf Diabetes, Herzinfarkt und Krebs zu konzentrieren?
Natürlich müssen wir uns auch darum kümmern. Aber wir haben heute eine unglaubliche Chance, die Ungleichheit in der Welt zu überwinden. Während fast der gesamten Geschichte waren Menschen arm und krank. Dann kam die industrielle Revolution und ein Teil der Weltbevölkerung wurde reicher und dadurch konnten diese Menschen ihre Gesundheit verbessern, zum Beispiel durch bessere hygienische Bedingungen. Heute können wir diesen Graben überbrücken. Auch die Bevölkerung armer Länder kann gesünder werden. Und ein entscheidender Schritt dahin ist es, diese Infektionskrankheiten loszuwerden, die in den armen Ländern immer noch viele Menschen töten.

Zur Person: Seth Berkley wurde 1956 in New York geboren. Er studierte Medizin und ging 1984 als Epidemiologe zur US-Seuchenbehörde CDC. Es folgten Stationen beim Gesundheitsministerium in Uganda und der Rockefeller-Stiftung. 1996 gründete Berkley die International Aids Vaccine Initiative und leitete diese, bevor er 2011 zur Gavi (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) kam. Diese will bis zum nächsten Jahr 250 Millionen Kinder in armen Ländern mit lebensrettenden Impfungen versorgen.

Sie bringt dazu Regierungen, Impfstoffhersteller, die Weltgesundheitsorganisation, die Weltbank sowie private Spender und Stiftungen zusammen.

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