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Gleiche Gene, gleiche Chancen. Der IQ von eineiigen Zwillingen ist viel stärker miteinander korreliert als der von zweieiigen Zwillingen. Daraus lässt sich errechnen, wie stark der IQ durch die Gene bestimmt wird.
© picture alliance / Frank May

Zwillingsstudien: Intelligenz ist erblich

Zahlreiche Studien haben gezeigt: Intelligenz ist erblich. Und je älter Menschen werden, umso größer wird der Einfluss der Gene.

Erblich? Intelligenz soll erblich sein? Aber nicht doch! Nur verkappte Nazis behaupten dergleichen. So hat man es in den letzten fünfzig Jahren immer wieder gehört, zuletzt ganz ausdrücklich in der Sarrazin-Nichtdebatte von der Spitze der SPD: „Die Entwicklung oder Charaktereigenschaften eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen sind nicht durch ein bestimmtes Erbgut vorgezeichnet“ (Generalsekretärin Nahles). „Sarrazin hat in der Öffentlichkeit so getan, als würde sich Intelligenz und Dummheit und Fleiß und Leistungsverhalten genetisch vererben, und wer das sagt ..., der ist natürlich ganz nah an den ganzen Rassentheorien, die in den letzten hundert Jahren viel Verderben produziert haben ... Damit verstößt er … auch gegen elementare Wertvorstellungen unserer Verfassung“ (Sigmar Gabriel).

Urplötzlich war es da sogar zur offiziellen Parteidoktrin aufgestiegen: Die Gene haben mit der Intelligenz und dem Charakter eines Menschen nichts zu tun, und wer anderer Meinung ist, muss sich Zweifel an seiner Verfassungstreue gefallen lassen.

Wie die Allgemeinheit in dieser heiklen Frage denkt, ist schwer zu sagen. Nach meinen Beobachtungen nimmt sie ganz selbstverständlich an, dass die Menschen in vieler Hinsicht von Natur aus unterschiedlich begabt sind, auch in intellektueller. Aber das politisch-pädagogisch-soziologische Milieu und mit ihm einen Großteil der Medien schaudert jeder Hinweis auf eine Implikation der Gene. Privat: Aber ja doch! Offiziell: „Biologismus!“ (wie das fällige Schimpfwort lautet).

Die offizielle Meinung jedoch irrt. Die Erblichkeit unter anderem des IQ ist kein ideologisches Fantasiegespinst, sondern ein objektiver empirischer Befund. Es ist heute so klar erwiesen, wie etwas wissenschaftlich nur erwiesen sein kann, dass die genetische Ausstattung bei allen unseren körperlichen wie geistigen Gaben ein gewichtiges Wort mitzureden hat, bei der Intelligenz sogar ein besonders gewichtiges. Die Erblichkeit der biometrischen Intelligenz (des IQ) ist fast so hoch wie die der Körpergröße. Sie beträgt 70 bis 85 Prozent.

Was das heißt? Dass die in einer bestimmten Population gemessenen Intelligenzunterschiede zu 70 bis 85 Prozent auf Unterschiede in den zugrunde liegenden Genen zurückgehen. Die Erblichkeit im technischen Sinn ist eine populationsstatistische Aussage, keine individuell-psychologische. Sie besagt nicht, dass der Einzelne die eigene Intelligenz zu drei Vierteln den Genen und einem Viertel allen anderen Einflüssen seines Lebens verdanke, die unter dem Passepartoutwort „Umwelt“ zusammengefasst werden. Sie besagt vielmehr, dass die in der betreffenden Menschengruppe gemessenen IQ-Unterschiede zu soundso viel Prozent genetische Gründe haben.

Klar ist das spätestens seit 1996. Damals setzte ein Taskforce-Gutachten der Amerikanischen Psychologiegesellschaft (APA) den IQ-Kriegen, die seit 40 Jahren in den USA und Großbritannien gewütet hatten, in Deutschland aber weitgehend ignoriert wurden, ein Ende. Seitdem bestreiten nur noch einige Außenseiter den Befund: Die messbaren Intelligenzunterschiede zwischen erwachsenen Menschen gehen überwiegend auf genetische Ursachen zurück.

Alles andere ist eine liebe Lebenslüge.

Die Aussagekraft von IQ-Tests wird regelmäßig in Frage gestellt. Ein Fehler.

Bewehrt – nicht bewährt – hat sich diese Lüge über die Jahrzehnte vor allem mit dem Standardeinwand: Erblich oder nicht, der IQ sei jedenfalls nichtssagend. IQ-Tests: läppische Spielchen, so aussagekräftig wie Kreuzworträtsel. Auch das ist ein Irrtum, wie jenes Taskforce-Gutachten von 1996 ebenfalls feststellte.

Das Wort „Intelligenz“ ist nicht patentierbar. Jeder mag darunter verstehen, was ihm beliebt. Auch kann niemand sagen, was Intelligenz ist. Aber man kann beobachten und messen, was sie tut, bei dem einen besser, dem anderen schlechter: schlussfolgern, kombinieren, richtige Worte finden, abstrakte Probleme lösen, Wissen erwerben. IQ-Tests wurden zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden, um den Erfolg in den Schulen der Industriegesellschaften vorherzusagen. Als Messinstrumente wirken sie heute etwas angestaubt, wie alte Barometer, aber den Schulerfolg sagen sie heute so zuverlässig voraus wie damals. Je nachdem, woran man ihn misst, korrelieren IQ-Tests mit ihm bis über 0.70 (1 ist die perfekte Korrelation, 0 gar keine) – was den IQ mit Abstand zum besten Instrument macht, den Schulerfolg vorherzusagen.

Die Korrelation zwischen IQ und Berufserfolg ist weniger hoch (0.20 bis 0.25), und das ist nicht verwunderlich, denn um in einem Beruf zu reüssieren, braucht es noch ganz andere Fähigkeiten als jene abstrakte Problemlösungsfähigkeit, auf die es in den Schulen ankommt. Aber die relativ niedrige Korrelation täuscht über einen Tatbestand von großer gesellschaftlicher Bedeutung hinweg: den Transistoreffekt des IQ. Menschen mit jedem, auch dem höchsten IQ können Hilfsarbeiter werden, und nicht wenige werden es tatsächlich. Aber niemand mit einem niedrigen IQ wird je Physikprofessor. Der Durchschnitts-IQ von naturwissenschaftlichen Akademikern liegt etwa 30 Punkte über dem Durchschnitts-IQ von Packern. Was das bedeutet? Dass sich die modernen Wissensgesellschaften unter anderem nach dem IQ stratifizieren, und zwar alle, die kapitalistischen wie die sozialistischen. In unseren modernen Gesellschaften setzt qualifizierte Arbeit (und das mit ihr verbundene höhere Einkommen und Sozialprestige) einen ausreichend hohen IQ voraus.

Der dritte Grund, warum der IQ nach wie vor nichts Nebensächliches ist, heißt „g“. So nannte Charles Spearman 1904 eine Fähigkeit, die an der Lösung aller irgendwie denkerischen Testaufgaben beteiligt sein muss. Denn alle sind miteinander korreliert: Personen, die bei einem Test gut abschneiden, können in der Regel auch andere Aufgaben gut lösen. Nichts wurde in der Intelligenzforschung jahrzehntelang so verlästert und bekämpft wie dieses g (für general ability, „intellektuelle Grundfähigkeit“). Es hat sich jedoch gut behauptet. Welche Denkaufgaben man auch ersann, sie hörten nicht auf, miteinander zu korrelieren. Ein breit gefächerter IQ-Test stellt höchst unterschiedliche Aufgaben: Man muss rechnen, Bilderfolgen logisch komplettieren, Redensarten erklären, Figuren im Geist drehen, herausfinden, was Katze und Maus gemeinsam haben … Aber alle diese Aufgabenklassen korrelieren. Die biometrische Intelligenz besteht also nicht, wie von vielen erhofft, aus vielen gesonderten, voneinander unabhängigen Spezialkompetenzen, die sich gegenseitig kompensieren könnten. Hinter ihr steht etwas, worauf alle Denkaufgaben angewiesen scheinen, das unheimliche g.

Die Forscher sind dem geheimnisvollen g auf der Spur.

Heute beginnt man gehirnphysiologisch zu verstehen, was dieses ominöse g sein könnte: die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses, die Fähigkeit, schnell aktuelle Inhalte in diesen „Kurzzeitspeicher“ nachzuladen und überhaupt die Schnelligkeit des Gehirns. Die ganz hohen Erblichkeiten, 80 bis 87 Prozent, ergaben sich, wo man allein diese intellektuelle Hintergrundfähigkeit in Betracht zog.

Die Erblichkeitsberechnung ist keine Geheimwissenschaft. So kompliziert Datenbeschaffung und -berechnung auch sind, den Grundgedanken kann jeder nachvollziehen. Die Grundlage bildet der Vergleich von Verwandtenkorrelationen. Auf die einfachste Methode kam schon 1924 der Berliner Dermatologe H. W. Siemens. Man misst ein Merkmal wie den IQ bei zwei Gruppen von Verwandten: etwa ein- und zweieiigen Zwillingen. Die eineiigen stimmen in ihren Genen zu 100 Prozent überein, die zweieiigen zu durchschnittlich 50. Wäre die Übereinstimmung im IQ bei beiden Gruppen gleich hoch, so hätten offenbar die Gene nichts zu ihrer Ähnlichkeit beigetragen, und die Erblichkeit wäre null. Wenn die eineiigen dagegen genau doppelt so hoch übereinstimmten, wäre die Erblichkeit 100 Prozent. Man berechnet also, wie stark die Ähnlichkeit der eineiigen die der zweieiigen übertrifft. Korrelieren zum Beispiel die eineiigen mit 0.74, die zweieiigen mit 0.39, so lässt das eine Differenz von 0.35. Da auch zweieiige Zwillinge die Hälfte ihrer Gene miteinander teilen, bildet diese Differenz den Effekt der Gene nur zur Hälfte ab. Man muss sie verdoppeln, um zu ihrer vollen Effektstärke zu gelangen. Sie ist die Erblichkeit in ihrem weiten technischen Sinn, 70 Prozent in diesem Beispiel.

Die genauen Zahlen, die bei diesen Untersuchungen für die Erblichkeit der Intelligenz herauskamen, schwankten allerdings. Bis 1975 rechnete man mit bis zu 75 Prozent. Um 1980 schien die Zahl eher zwischen 50 und 60 zu liegen.

Natürlich ist die Erblichkeit der Intelligenz keine Naturkonstante, der man sich durch immer genauere Messungen immer dichter annähern könnte. Sie ist ein empirischer Messwert, der bei jeder einzelnen Studie etwas anders ausfallen wird: Verschieden zusammengesetzte Probandengruppen, verschiedene Messinstrumente, verschiedene Berechnungsmethoden – nie kann bei derlei Untersuchungen genau das Gleiche herauskommen. Aber Unterschiede bis zu 30 Prozent schienen doch ungemütlich hoch und nährten Zweifel an dem ganzen Verfahren.

In den frühen 1990er Jahren aber kamen die Forscher auf den Hauptgrund für die starken Schwankungen. Die meisten IQ-Tests waren Kindern und Jugendlichen gegeben worden, Schülern und Berufsanwärtern. Doch wenn man nur Erwachsene in Betracht zog, ergaben sich andere Zahlen. Zwischen dem siebten und zwanzigsten Lebensjahr nimmt die Erblichkeit erstaunlicherweise zu, und im genau gleichen Maß schrumpfen die Umwelteinflüsse auf die de facto bestehenden IQ-Unterschiede.

Welche Konsequenzen hat das für die Erziehung?

Eigentlich hätte man das Gegenteil erwarten sollen: dass die Umwelteinwirkungen immer folgenreicher werden, je länger sie den Einzelnen zurechtkneten. Aber so ist es eben nicht: Die genetischen Anlagen kommen mit dem Heranwachsen immer deutlicher zum Ausdruck. Heute tut man darum gut daran, die Erblichkeit bei Kindern und Erwachsenen strikt auseinanderzuhalten. Bei achtjährigen Kindern beträgt sie um die 40 Prozent, bei Erwachsenen 60 bis 75. In den neuesten Untersuchungen aus Skandinavien, den Niederlanden und Japan gehen die Schätzwerte sogar bis zu 85 Prozent.

Dass die wichtigste Ursache für die de facto bestehenden intellektuellen Begabungsunterschiede nicht die „Umwelt“ ist (die Schulqualität, die Bildungsnähe oder -ferne der Eltern, die Schichtzugehörigkeit, der Erziehungsstil), sondern die individuelle genetische Ausstattung, heißt indessen nicht, dass die Umwelt gleichgültig wäre. Die Gene fixieren keinen bestimmten IQ. Was sie tatsächlich festlegen, ist eine „Reaktionsspanne“, ein Potenzial. Dieses Potenzial verwirklicht sich – mehr oder weniger – in der Auseinandersetzung mit dem, was die Umwelt für den Einzelnen bereithält. Jede Intelligenz braucht beides zu hundert Prozent: eine genetische Anlage und einen der Intelligenz förderlichen Beitrag der Umwelt.

Die wichtige, aber bislang nicht endgültig beantwortete Frage lautet: Wie groß ist der Spielraum? Wie stark kann eine ungünstige Umwelt die Intelligenzentwicklung zurückhalten, eine günstige sie fördern? Und worin genau bestünden die spezifischen günstigen Umstände?

Auf verschiedenen Wegen sind die Forscher zu dem Ergebnis gekommen, dass der Spielraum zwischen 10 und 20 (von 100) IQ-Punkten liegen dürfte. Weniger klar ist, wie viel sich von einem durch umfassende Fördermaßnahmen in der Kindheit erzielten IQ-Anstieg bis ins Erwachsenenalter hält.

Darum hätte die Anerkennung genetisch bedingter Begabungsunterschiede gar nicht die bösen Folgen, die das juste milieu befürchtet. Ja, sie würde die Gesellschaft von einer Lebenslüge mit illusionären Erwartungen im Gefolge befreien. Das realistische Erziehungsziel aber kann immer nur sein, jedem Begabungspotenzial zu seiner oberen Grenze zu verhelfen.

Dieter E. Zimmer ist Journalist, Autor und Übersetzer. Sein neues Buch „Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung“ erscheint am Montag im Rowohlt-Verlag (320 Seiten, 19,95 Euro).

Dieter E. Zimmer

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