Astronomie: In die Sterne schauen - und sich selbst erkennen
Die Geschicke der Menschheit sind eng mit dem Kosmos verbunden. Ein Plädoyer für die Astronomie aus Anlass der Wiedereröffnung des Zeiss-Großplanetariums.
Am 25. August leuchten im Planetarium an der Prenzlauer Allee wieder die künstlichen Sterne. Rund 13 Millionen Euro investierte das Land Berlin in die Renovierung des Gebäudes sowie für eine neue Projektionsanlage. Kritiker mögen rufen: „Schulen, Straßen, Kindergärten – überall fehlt Geld. Aber für die Sterngucker reicht es offenbar noch.“
Seit Jahrtausenden haben diese Sterngucker die Entwicklung unserer Zivilisation und Kultur nicht nur begleitet, sondern wesentlich mitgestaltet und vorangetrieben. Am Anfang der Menschheitsgeschichte stand auch der staunende Blick nach oben in die himmlische Hälfte der Natur. Aus den regelmäßigen Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen haben unsere frühen Vorfahren eine erste Hoffnung geschöpft: Die Welt ist nicht Chaos. Man kann Fragen stellen an die Natur und Antworten finden. Und wie seit jeher leuchten die Sterne auch heute noch hinein in unseren Verstand, kitzeln ihn, stacheln ihn an. Welche Rolle spielen wir im Kosmos? Welche Geschichte hat uns auf diesen kleinen Planeten gesetzt, der seit Milliarden von Jahren in den Weiten des Weltalls seine Runden um die Sonne dreht? Und sind wir allein im All?
Der kosmische Kalender ordnete das Leben der Menschen
Der Blick hinaus in die sternfunkelnden Weiten des Weltalls hat aber nicht nur Denker und Philosophen zu allen Zeiten herausgefordert, nachzudenken über den Aufbau des Kosmos und den Sinn unserer Existenz in ihm. Dieser von irdischen Dingen scheinbar so abgewandte Blick zu den fernen Sternen hat auch praktische Erkenntnisse für unseren Alltag geliefert. Der Sternhimmel wurde zur ersten Uhr und zum kosmischen Kalender der Menschheit und ist es bis heute geblieben. Die Bewegungen am Himmel geben den Takt vor für unsere Einteilung des Stroms der Zeit in Stunden, Tage, Monate und Jahre.
Zudem zeigten die Gestirne oben am Himmel den Menschen schon seit alters her an, wo sie sich unten auf der Erdkugel befanden. Der Aufschwung des globalen Handels mit all seinen Vor- und Nachteilen verdankt sich maßgeblich der Navigation nach den Sternen. Sie führte die Schiffe sicher über die Weiten der Meere.
Natürlich müssen wir dies alles nicht zwingend wissen. Genauso wenig, wie etwa ein Fußballspieler wissen muss, dass die Bälle nach den gleichen Gesetzen durch die Stadien fliegen wie die Planeten um die Sonne. Aber ein bisschen Anerkennung schulden wir dem Sternhimmel schon dafür, dass er uns dies alles und noch viel mehr gelehrt hat. Oder pädagogisch ausgedrückt: Grundkenntnisse dieser Beiträge der Astronomen für die Entwicklung unserer Zivilisation verdienen es nach wie vor, als Teil unserer Allgemeinbildung zu gelten.
Die Sterne sind nur "leuchtender Aussatz", befand Hegel
War’s das etwa schon? Ein paar praktische Beiträge? Schon der Philosoph Arthur Schopenhauer sah das so. Die Astronomen seien „bloße Rechenköpfe, und im Übrigen von untergeordneten Fähigkeiten“. Auch sein Kollege Georg Wilhelm Friedrich Hegel hegte offenbar keine hohe Meinung über das Treiben der Astronomen. Die Sterne seien doch nur ein „leuchtender Aussatz des Himmels“. Und der sonst so romantische Heinrich Heine sah in den Sternen „goldene Lügen im blauen Nichts“. Diese ratlose Reaktion auf das funkelnde Himmelsrätsel lässt immerhin ahnen, wie es geschehen konnte, dass die Astronomie von ihrem Sockel als Königin der Wissenschaften hinabgestoßen wurde in die Niederungen der nackten Naturwissenschaften. Und die sind ja längst vertrieben aus dem Paradies der Kultur: Goethe hui, Gene und Gestirne pfui!
Und nun werden für eines der beiden Berliner Großplanetarien – jawohl, sie leisten sich zwei in der Stadt! – 13 Millionen Euro ausgegeben?
Selbst wenn es nur die Naturwissenschaften wären, die in den Planetarien ihre Bühnen bekämen, wären diese Wissenschaftstheater ihr Geld schon wert. Denn die Naturwissenschaften und ihre umtriebigen Töchter, die technischen Disziplinen, beeinflussen unser modernes Leben stärker als jedes andere Tätigkeitsfeld des menschlichen Geistes. Und dies durchaus nicht nur im positiven Sinn. Umso wichtiger ist die bildungspolitische Aufgabe der Planetarien, Menschen aller Altersstufen mit unterschiedlichsten Bildungsgraden und aus allen sozialen Schichten zu informieren, worüber und mit welchen Methoden und Ergebnissen weltweit geforscht wird.
Die Hauptrolle spielt natürlich die Nacht, „voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, die Fremdlingin unter den Menschen“, wie Friedrich Hölderlin sie beschrieben hat. Heute wissen wir es besser. Der Kosmos hat sich sehr wohl um uns bekümmert. Und nicht erst Immanuel Kant hat mit seinem berühmten Zweiklang vom „bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir“ die enge Beziehung zwischen Kosmos und Mensch geahnt. Das Gefühl, geheimnisvoller Teil eines höheren Ganzen zu sein, ist mehr oder weniger verschlüsselt in jedem Schöpfungsmythos, in jeder Religion enthalten.
Dem Kosmos verdanken wir unsere Existenz
Welche Lehren könnten wir aus dem Bewusstsein unserer rätselhaften kosmischen Existenz ziehen? Bescheidenheit etwa? „Menschlein, nimm dich nicht so wichtig!“ Lautet so die Moral von der Geschicht’, die die Astronomen nach langen Nächten in Sternwarten ihren durch den hellen Tag hetzenden Mitmenschen zurufen? Geschenkt! Die Erkenntnis unserer winzigen Bedeutungslosigkeit angesichts der ungeheuren Weiten des Weltalls hat noch selten eine moralpädagogische Wirkung entfacht gegen die Verlockungen von Macht und Geld.
Der Kulturbeitrag der Astronomie für unser Nachdenken über die Conditio humana geht aber weit über den geometrischen Gemeinplatz hinaus, ein Nichts auf einem Staubkorn zu sein. Der Kosmos ist kein geschichtsloser riesiger Raum, in dem irgendwann einmal ein kleiner Planet sich überzogen hat mit einem dünnen Flaum des Lebens. Der Kosmos hat vielmehr eine Geschichte, und dieser verdanken wir unsere Existenz.
Sie begann vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Der Urknall hatte noch ein ziemlich langweiliges Weltall hervorgebracht. Zunächst gab es nur Wasserstoff und Helium in ihm. Doch von Anfang waren offenbar alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt, damit das Weltall sich weiter entwickeln konnte. Und so kam, was kommen musste, oder zumindest kommen konnte. Das leuchtende Leben vieler Generationen von Sternen und der explosive Tod der massereichen unter ihnen haben das Weltall allmählich verwandelt in einen chemischen Garten Eden. Vor 4,6 Milliarden Jahren war es dann so weit. Aus einer Gas- und Staubwolke entstand das Sonnensystem. Und auf dem dritten seiner Planeten verwandelten sich die in Sternen aufgebauten Stoffe in die Bausteine des Lebens. Auf einem kleinen Planetenpünktchen setzte sich die in den Weiten des Weltalls begonnene kosmische Karriere fort als Evolution des Lebens. Der Clou dieser Geschichte der Welt: Sie hat sich ihre intelligenten Zuhörer selber geschaffen. In unseren Gehirnen hat sich der Stoff der Sterne so organisiert, dass er seine eigene Entwicklung erkennen und verstehen kann. Der Blick hinaus in die Schwärze der Nacht ist zu einem Blick quer durch die Geschichte des Kosmos geworden, zurück bis zu den Ursprüngen unseres Seins. Astronomie ist eine Entdeckungsreise, auf der der Entdecker sich selbst entdeckt.
Ein Wunder, dass wir uns wundern können
Im Rückblick sieht es so aus, als hätte der Kosmos sich zielstrebig auf uns zu entwickelt. Aber hätte der Urknall nicht auch ein ganz anderes Universum hervorbringen können, mit einer ganz anderen Geschichte, ohne intelligente Zuhörer dieser Geschichte? Oder ohne jede Geschichte? Wir wissen es nicht. Wir können uns nur wundern darüber, dass wir uns wundern können über das Wunder unseres Seins.
Dies ist die kulturelle Dimension der Planetarien. Sie stellen uns vor das größte Rätsel der Welt, nämlich das der Welt selber. Wer es erst einmal erfasst hat, der blickt anders als zuvor auf unseren Heimatplaneten, auf all das Glück und all das Leid, das seine allesamt gemeinsam in einer wahrhaft universellen Schöpfungsgeschichte erschaffenen Lebewesen erleben. Und vielleicht wächst daraus sogar ein Gefühl der Verantwortung für diesen nach heutigem Wissen buchstäblich einmaligen Ort im Kosmos.
- Der Autor leitete von 1983 bis zum Frühjahr 2016 das Planetarium in Freiburg.