Als Jimmy Carter 1978 Berlin besuchte: In der Präsidenten-Sprechstunde
Vor Obama war es Jimmy Carter: 1978 stellte sich der damalige US-Präsident Fragen von Berlinerinnen und Berlinern. Der Senat war wegen des Formats besorgt.
Wenn der ehemalige US-Präsident Barack Obama jetzt nach Berlin kommt, will er auch mit Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Er lädt am Samstag – ganz nach amerikanischer Tradition – zu einem „Town Hall Meeting“: 300 junge Menschen aus ganz Europa dürfen ihm Fragen stellen. Für deutsche Verhältnisse ist das noch immer ungewöhnlich. Doch es ist nicht das erste Mal, dass eine solche Bürgerversammlung hier stattfindet.
Es war der amerikanische Präsident Jimmy Carter, der sich am 15. Juli 1978 den Fragen geladener Berlinerinnen und Berliner stellte. Damals galten insbesondere die Besuche von Staatsoberhäuptern der West-Alliierten als wichtiges politisches Statement. Vor allem der Besuch von John F. Kennedy im Sommer 1963 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Stadt eingeschrieben. Auf persönlichen Wunsch von Jimmy Carter wich die Dramaturgie seines Berlin-Aufenthaltes jedoch von dem berühmten Vorbild ab: Er bestand auf ein Town Hall Meeting. Es war das erste Mal, dass ein amerikanischer Präsident außerhalb der Vereinigten Staaten zu einem solchen „Bürgerforum“ einlud.
Es gilt seit dem 18. Jahrhundert als zentraler Bestandteil der amerikanischen Demokratie. Bürger versammeln sich – nicht unbedingt im Rathaus, obwohl der Name dies suggeriert – und erörtern aktuelle Themen, politische Repräsentanten stellen sich den Fragen ihrer Wählerschaft.
Der Senat befürchtet, es kommen "die armen Irren" aus der Bürger-Sprechstunde
Als Jimmy Carter plante, das Format nach West-Berlin zu exportieren, wurden auch kritische Stimmen laut. Der „Spiegel“ kommentierte leicht düpiert, dass der Stellenwert der „Millionenstadt an der Spree“ offenbar dem von „amerikanischen Provinznestern“ entspreche und nun „gleichberechtigt neben Clinton (Massachusetts), 13.300 Einwohner, und Yazoo City (Mississippi), 11.732 Einwohner“ stehe. Ein Mitarbeiter des US-Außenministeriums habe über seine Kollegen im Weißen Haus geklagt: „Die Leute haben nicht begriffen, dass Berlin im Ausland liegt.“
Die für die Planung verantwortlichen Stellen waren vor allem aufgrund des spontanen Charakters einer solchen Veranstaltung skeptisch. Die USA lehnten jedoch eine gezielte Auswahl der Teilnehmer und eine Festlegung der Fragen ab. Im Senat befürchtete man deshalb, so der „Spiegel“, dass „all die armen Irren kommen, die sich immer in unsere Bürger-Sprechstunde drängen“. Der Stab Carters erachtete kulturelle Unterschiede als Ursache für die Bedenken: Die Deutschen würden das Stellen von Fragen als respektlos empfinden.
Die Organisatoren versuchten schließlich, durch eine geschickte Einladungspolitik für ein wohlwollendes Publikum zu sorgen. Die geladenen Bürger setzten sich hauptsächlich aus den Teilnehmern des Austauschprogramms „Friendship Force“ zusammen, das die Gattin des US-Präsidenten ins Leben gerufen hatte. Zusätzlich wurden Plätze unter anderem über die Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, die Stiftung Luftbrückendank und die John-F.-Kennedy-Schule vermittelt. Nicht wenige West-Berliner kritisierten das Verfahren und baten per Brief darum, ebenfalls eingeladen zu werden.
Auch Ost-Berlin bereitet sich vor: Es tüncht die Mauer weiß
Mehrere deutsch-amerikanische Arbeitsgruppen erörterten vorab die Details des Berlin-Besuchs. Insbesondere über die seit dem Kennedy-Besuch populäre Tour im offenen Wagen wurde aus Sicherheitsgründen intensiv diskutiert. Erst zwei Tage vor dem Besuch erfuhren die West-Berliner, dass Carter auch den Kurfürstendamm entlangfahren werde. Es wurde eigens die besonders gesicherte Limousine des Präsidenten eingeflogen. Die Alliierten ordneten auf Wunsch des Senats ein 24-stündiges Versammlungsverbot an; es durften keine Drucksachen verteilt oder „tonverstärkende Geräte“ benutzt werden. Selbst Ost-Berlin beteiligte sich an den Vorbereitungen: Am Morgen des 15. Juli 1978 wurde die Mauer am Potsdamer Platz weiß getüncht. Streifenwagen der West-Berliner Polizei sowie britische Soldaten sicherten das Vorfeld, während DDR-Grenztruppen versuchten, einen Hinweis auf das Schicksal eines ostdeutschen Wehrdienstverweigerers zu tilgen.
Am frühen Nachmittag, um 14 Uhr, traf der Präsident auf dem Flughafen Tempelhof ein. Seine erste Station war das Luftbrücken-Denkmal. Anlässlich des 30. Jahrestages des Beginns der sowjetischen Blockade nahm er an einem Trauerzeremoniell in Gedenken an jene Piloten teil, die bei der Luftbrücke ums Leben gekommen waren. Carter trug sich in das Goldene Buch der Stadt ein und hielt eine kurze Ansprache.
Umstritten im US-Stab: Soll Carter Marlene Dietrich zitieren?
Im Vorfeld hatten ihm seine Redenschreiber empfohlen, in Anlehnung an Kennedys „Ich bin ein Berliner“ auch einige deutsche Worte zu sprechen: „Wenn wir versuchen, dem gleichzukommen, könnte es effekthascherisch wirken. Wenn wir es nicht versuchen, könnten wir einfallslos erscheinen.“ Sie testeten den Titel des Liedes „Ich habe noch einen Koffer in Berlin“ von Marlene Dietrich an einigen Deutschen und stellten fest, dass er ein „big hit“ sein würde. Der Vorschlag wurde jedoch mit dem Kommentar „too much“ gestrichen. Die Rede Carters endete mit dem Satz „Was immer sei, Berlin bleibt frei“.
Anschließend fuhr die 25 Fahrzeuge lange Kolonne zur Mauer am Potsdamer Platz. Nach einem 10-minütigen Aufenthalt ging es weiter zur Kongresshalle. Hier durften sich Herr und Frau Carter eine Pause gönnen, bevor das Town Hall Meeting begann.
Zur Begrüßung lobte Carter den Mut, den die West-Berliner während der Blockade in ihrem „belagerten Vorposten“ gezeigt hätten. Er zitierte US-Präsident Harry Truman, der am 21. März 1949 vor der United States Conference of Mayors das Verhalten der West-Berliner während der Blockade als Beweis für die Stärke des demokratischen Geistes gewertet hatte. Im Publikum saß damals Ernst Reuter. Das verbindende Element dieser beiden Reden war das durch die Luftbrücke begründete besondere Verhältnis zwischen den USA und West-Berlin, das es weder ungewöhnlich erscheinen ließ, dass ein Berliner Bürgermeister am Treffen seiner amerikanischen Kollegen teilnahm, noch, dass ein amerikanischer Präsident in West-Berlin ein Bürgertreffen abhielt.
Eine Frage: Wie hoch ist das Taschengeld von Carters Tochter?
Im Anschluss an die kurze Rede Carters konnte das Publikum Fragen stellen – sie reichten von der Höhe des Taschengeldes der Präsidenten-Tochter über das Viermächte-Abkommen und das Phänomen des Eurokommunismus bis hin zum Naturschutz und zur Energieversorgung. Folgenreich war die Frage der Rentnerin Irmgard Hiege. Sie wollte wissen, warum nicht mehr für die Entstehung persönlicher Beziehungen zwischen der Berliner Bevölkerung und den Soldaten der West-Alliierten getan werde. Carter gab zu, dies nicht beantworten zu können, versprach aber, sich dafür einzusetzen.
Gleich im Anschluss bat er den Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe, der Frage nachzugehen. In der Senatskanzlei begann daraufhin ein hektisches Treiben, denn die Frau hatte einen wunden Punkt berührt. Tatsächlich hatte das Engagement nachgelassen. Zum einen war die Anwesenheit der West-Alliierten zur Selbstverständlichkeit geworden, zum anderen hatte die amerikanische „Schutzmacht“ aufgrund des Vietnamkriegs an Popularität eingebüßt. Die Angst vor einem sowjetischen Angriff war infolge der politischen Annäherung zwischen Ost und West gesunken und es erwuchs Kritik an der alliierten Präsenz. Aufgrund eines kulturellen Wandels ließ sich aus öffentlichen Auftritten mit Vertretern des Militärs immer weniger politisches Kapital schlagen.
Carter setzt sich aufs Dach seines Wagens
Nach dem Verlassen der Kongresshalle fuhr die Wagenkolonne des Präsidenten über den Kurfürstendamm nach Tempelhof. Die beinahe aus dem Programm gestrichene Tour durch die Innenstadt wurde zu einem vollen Erfolg. Carter ließ sich von circa 150.000 Zuschauern feiern, wie der Tagesspiegel berichtete. „Ein dichtes Spalier von oft zehn bis fünfzehn Menschenreihen auf beiden Seiten gehörte zum atmosphärischen Höhepunkt dieses Besuches. Nur stockend kam die Kolonne voran. Carter setzte sich zeitweilig auf das Dach seines Wagens und winkte den Berlinern, die ihm fähnchenschwingend und mit Zurufen ihre Sympathie bekundeten, herzlich zurück.“ Zehn Pressebusse sorgten dafür, dass die Bilder in die Welt getragen wurden. Mit deutlicher Verspätung verließ der US-Präsident um 18 Uhr 40 die Stadt.
Im Rückblick verdeutlicht der Besuch Carters, dass West-Berlin sich damals in einer Zeit des Umbruchs befand: Einerseits wurde nach neuen Formen der Freundschaftsinszenierung gesucht, andererseits hielt man an dem pro-amerikanischen Selbstverständnis der Stadt fest. Als Richard Nixon im Februar 1969 an die Spree reiste, protestierten junge Menschen gegen den Krieg in Vietnam und die Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung. Die Anwesenheit Carters erhitzte die Berliner Gemüter jedoch kaum. Erst als Ronald Reagan 1982 und 1987 die Mauerstadt besuchte, kam es zu Massendemonstrationen und zu Krawallen.
Hatte Kennedy in seiner Rede West-Berlin noch als Beweis dafür angeführt, dass man mit Kommunisten nicht zusammenarbeiten könne, so deutete Carter die Stadt nun als Symbol für den Erfolg der Entspannungspolitik. Auch im Hinblick auf die Programmgestaltung markierte Carters Besuch einen Bruch: Er war der letzte US-Präsident, der im offenen Wagen ein Bad in der Berliner Menge nahm und blieb bis heute der Einzige, der hier ein Town Hall Meeting abhielt.
Die Autorin ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Stefanie Eisenhuth
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