Stalinismus: In der Gewalt des Gulag
Zwanzig Millionen Sowjetbürger litten in Stalins Lagern. Eine Ausstellung in Neuhardenberg dokumentiert nun Schicksale: Zeugnisse der Fron und des Hungers, ja der Entpersönlichung der Lagerinsassen hin zu bloßen Arbeitssklaven.
Im Sommer 1938 wurde Walentina Buchanewitsch-Antonowa verhaftet. Sie trug ein Sommerkleid, aber sie trug es nicht nur an diesem Morgen, sie trug es ein ganzes Jahr lang, während ihrer Untersuchungshaft in drei verschiedenen Moskauer Gefängnissen. 1939 kam sie frei, weil der „Große Terror“ Stalins plötzlich endete. Doch das Kleid hat sie aufbewahrt. An vielen Stellen ist es zerschlissen. Es gehört jetzt zu den Gegenständen, die die Ausstellung „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929 – 1956“ vom Sonntag an in Neuhardenberg zeigt. Zusammengestellt wurde sie von der Gesellschaft „Memorial“ in Moskau und der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Dora-Mittelbau. Es handelt sich beim Gulag um ein Thema, „das in Deutschland nach wie vor einen randständigen Platz einnimmt“, erklären die Veranstalter und konstatieren „Nachholbedarf“.
Der Nachholbedarf wird bleiben, auch nach dieser Ausstellung, die zwar eine Vielzahl erschütternder Objekte, materieller Zeugnisse der Fron und des Hungers, ja der Entpersönlichung der Lagerinsassen hin zu bloßen Arbeitssklaven vorweisen kann, aber die ganze Dimension der millionenfachen „Vernichtung durch Arbeit“ allenfalls erahnen lässt. Wie auch anders: „Der Gulag lässt sich nicht so einfach ausstellen, zeigen, musealisieren“, konstatiert der französische Historiker und Katalogautor Nicolas Werth.
Das liegt nicht zuletzt im ungeheuren Umfang des sowjetischen Lagersystems begründet. „Das Lager“, schreibt Werth, „hat sich in die sowjetische Landschaft eingeschrieben“ und dabei „die unterschiedlichsten Formen angenommen: Fabriken, Straßen, Minen, Kanäle, Bahngleise, Krankenhäuser, landwirtschaftliche Ausbeutung“. Das Lager kennt alle Größen, „von kleinsten Ansiedlungen für wenige Dutzend Häftlinge mitten im Wald bis zu ganzen Städten wie Norilsk, Workuta, Magadan und dem ganzen Gebiet des ,Dalstroi’ im Nordosten Sibiriens, dessen Ausdehnung fast zwei Millionen Quadratkilometer erreichte“.
Doch versucht die Ausstellung, diese Lagerwelt, diesen innersten Kern des Sowjetsystems, begreifbar zu machen. Sie tut es auf diejenige Weise, die sich in der Darstellung des NS-Völkermords bewährt hat: mit der Schilderung beispielhafte Schicksaler anstelle abstrakter Zahlen (die es gleichwohl gibt). So werden die in verglasten Schränken gehüteten Gegenstände, Fotografien und Dokumente von persönlichen Berichten gerahmt. Haftbefehle, Verhörprotokolle, Urteile – alles natürlich nicht verfasst von einer nach Recht und Gesetz arbeitenden Justiz, sondern von den Verfolgungsorganen des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, nach beliebig anwendbaren Gummiparagrafen und mit den fantastischsten Anschuldigungen, für die keinerlei Beweis nötig und gegen die kein Einspruch möglich war.
Einer kurzen Phase von „Besserungslagern“ mit Aussicht auf Freilassung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft folgte der rasante Ausbau des Lagersystems. Fast auf den Tag genau vor 82 Jahren, am 25. April 1930, wurde die „Hauptverwaltung der Lager“, abgekürzt Gulag, innerhalb des NKWD eingerichtet, von Anfang an mit der Maßgabe der schrankenlosen Ausbeutung der Häftlinge. Die Haftstrafen betrugen fünf, zehn, zwanzig Jahre, gefolgt von Verbannung innerhalb des riesigen Gebiets des jeweiligen Lagerkomplexes, hoch im eiskalten Norden und Nordosten oder unter der sengenden Sonne Turkestans. Die willkürliche Verlängerung der Haftdauer war vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg für „Politische“ die Regel, als zudem Hunderttausende von befreiten Kriegsgefangenen der Roten Armee als „Kollaborateure“ aus den deutschen Lagern unmittelbar in die sowjetischen überstellt wurden.
Dort wurde mit nichts als Spitzhacke und Spaten Kohle gebrochen, nach Gold geschürft, wurden Eisenbahnschienen gelegt. Von den Überlebenden, den endlich Befreiten, die jahrzehntelang geschwiegen hatten, erhielt die Gesellschaft „Memorial“ Erinnerungsstücke wie das Sommerkleid oder die anrührende Puppe, die sich eine Mutter als Erinnerung an ihre Tochter fertigte, als Vorstellung von dem Leben, das ihr Kind, ohne Kontakt zu ihr, „draußen“ führen mochte.
Die Ausstellung stellt eine bedenkenswerte These auf, indem sie gleich an den Eingang ein Modell des berühmten „Turms der III. Internationale“ von Wladimir Tatlin stellt, jenen ebenso grandiosen wie größenwahnsinnigen Entwurf eines 400 Meter hohen stählernen Gebäudes als Regierungszentrale Sowjetrusslands von 1920. Die Vision vom „Neuen Menschen“ und der totalen Machbarkeit der Welt, die die intellektuellen Wegbereiter und -begleiter des Bolschewismus beflügelte, wird mithin für den grenzenlosen Massenterror zumindest mit herangezogen. Es liegt nahe, zugleich an die NS-Verbrechen als „industriell betriebenen Massenmord“ zu denken.
Ob der stalinistische Terror jedoch als Auswuchs der Moderne verstanden werden kann, ist sehr die Frage. Das bäuerlich geprägte, vorindustrielle Russland kam seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr zur Ruhe: Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnöte folgten einander, dann die Zwangskollektivierung mit der todbringenden „Vernichtung der Kulaken als Klasse“. Der Massenterror der späten dreißiger Jahre bildet da nur den Endpunkt einer zwanzigjährigen Geschichte von Elend und Tod. Diese Linie zieht auch der Historiker Nicolas Werth, einer der profundesten Kenner des Stalinismus. Als Mitautor des heiß diskutierten „Schwarzbuchs des Kommunismus“ von 1997 hat er sich gleichermaßen gegen Verharmlosungen wie Übertreibungen verwahrt. Mit seinem penibel recherchierten Buch „Die Insel der Kannibalen“ erschien die Darstellung einer der fürchterlichsten Episoden des Gulag auch in deutscher Ausgabe – die Geschichte von 6000 auf einer ostsibirischen Flussinsel ausgesetzten Häftlingen, von denen die Mehrzahl verhungerte und viele zu Kannibalen wurden. Die Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge hat die Sicht auf den Gulag nochmals geschärft.
Werth hat die historischen Kapitel des schmalen, aber hoch informativen Ausstellungskataloges verfasst. Seit dem „Schwarzbuch“ hat sich der Kenntnisstand über den Gulag erheblich vertieft, man denke an Anne Applebaums auflagenstarkes Buch „Der Gulag“ von 2003. Die Ausstellung der Stiftung Neuhardenberg spiegelt den heutigen Forschungsstand wider, der gekennzeichnet ist einerseits von einer erstaunlichen, früher nicht für möglich gehaltenen bürokratischen Erfassung aller Häftlinge und der ihnen zur Last gelegten Vergehen seitens des NKWD, andererseits vom Verlust der Aktenbestände zahlreicher Lagerkomplexe, aus denen die lokalen Vorgänge, insbesondere die in den Lagern selbst verhängten Zusatzstrafen, hätten rekonstruiert werden können.
Die zuvor nur grob zu schätzenden Zahlen lassen sich inzwischen genauer fassen. Die Gesamtzahl der gleichzeitig inhaftierten Lagerinsassen erreichte vor dem Krieg zwei Millionen, in den Jahren der nochmals verschärften Repression um 1950 sogar 2,7 Millionen Häftlinge. Von ihnen waren maximal 30 Prozent als „Politische“ nach dem berüchtigten Paragrafen 58 als „Volksfeinde“ verurteilt worden. Die Mehrzahl der Lagerinsassen bestand aus Verurteilten wegen „Vergehen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit“, sei es wegen Unterschlagung eines Kanten Brots oder Zuspätkommens am Arbeitsplatz. Über allen aber regierten die tatsächlichen Kriminellen der auch zu Sowjetzeiten organisierten Banden, derer sich das System perfiderweise als Aufseher und Unterdrücker bediente – ein Umstand, der die ganze Sowjetgesellschaft mit den mafiösen Strukturen entlassener Strafgefangener durchdrungen und dauerhaft vergiftet hat.
Nationalsozialismus und Stalinismus könnten nicht verglichen werden, heißt es hierzulande zur Untermauerung von „Singularität“ – als ob historische Ereignisse nicht eo ipso singulär wären. Mancher Vergleich ergibt sich von selbst. Im Befehl der Volkskommissare vom 5. September 1918, nicht einmal ein Jahr nach der Revolution, wird gefordert, alle „Klassenfeinde“ müssten in „Konzentrationslagern isoliert werden“. So geschah es. Jeder konnte „Klassenfeind“ sein. In den folgenden knapp vier Jahrzehnten gingen 20 Millionen Sowjetbürger durch den Gulag.
Schloss Neuhardenberg, Eröffnung am Sonntag, 29. April um 12 Uhr (u. a. mit Nicolas Werth). Geöffnet von 1. Mai bis 24. Juni, Di-So 11-19 Uhr. Katalog 14,90 Euro. Mehr unter: www.schlossneuhardenberg.de
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