Mediensucht: Im Netz gefangen
Das Internet kann abhängig machen: Auf der Mediensucht-Konferenz in Berlin wurden Gefahren und Therapien diskutiert.
Sie war wahrscheinlich eine der Ersten: Zwölf Jahre ist es nun her, dass Gabriele Farke ihre Sorge äußerte, sie könne vom neuen Medium Internet abhängig geworden sein. „Als ich die Frage nach dem Krankheitswert stellte, wurde ich nur ausgelacht“, sagt die vitale Frau aus Buxtehude rückblickend. Nur wenige Menschen tummelten sich zu diesem Zeitpunkt so ausdauernd im Netz wie sie, und einer ihrer Chat-Partner schrieb: „Sag mal, lebst du hier im Internet?“
Gabriele Farke nennt es heute Onlinesucht, wovon sie sich selbst mühsam befreite. Schon im Jahr 1998 gründete sie den Verein „Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige“ (HSO). Über dessen Arbeit berichtete sie in der vergangenen Woche auf einer Konferenz zum Thema Mediensucht, die der Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe der Diakonie und die Universität Mainz gemeinsam in Berlin ausgerichtet hatten.
Auch heute taucht exzessiver Medienkonsum nicht als eigenständige Form einer Verhaltenssucht in den Klassifikationssystemen psychischer Störungen auf. Dass das Phänomen nicht mehr selten ist, ist dagegen unumstritten. Unter Jugendlichen und jungen Männern weit verbreitet ist speziell die Onlinespielsucht. „Verschiedene Studien ergaben, dass sechs bis neun Prozent der aktiven Spieler betroffen sind“, sagte auf der Tagung der Psychologe Klaus Wölfling von der Abteilung Medizinische Psychologie und Soziologie der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, wo gerade ein Kompetenzzentrum Verhaltenssucht aufgebaut wird – ein Projekt, das noch von der kürzlich verstorbenen Sabine Grüsser-Sinopoli initiiert worden war. Zu den „aktiven Spielern“ zählen nach Auskunft des Wissenschaftlers zwei Drittel der männlichen Jugendlichen. Sie spielen mindestens zwei bis drei Mal in der Woche, überwiegend in rund um die Uhr betretbaren Plattformen für Rollenspiele, von Experten MMORPGs (für: Massive Multiplayer Online Role Play Games) genannt.
Meist macht es einfach Spaß, in einer angenommenen Rolle Erfolgserlebnisse zu haben und Abenteuer zu erleben – und es ist auch nicht weiter bedenklich. Ein Problem entstehe aber immer dann, wenn die virtuelle Welt in schwierigen Entwicklungsphasen attraktiver werde als die wirkliche, meint der Züricher Psychotherapeut Franz Eidenbenz, der vor einigen Jahren die erste Schweizer Beratungsstelle für Onlinesüchtige geschaffen und in Zusammenarbeit mit der Berliner HU auch Daten zur Häufigkeit in seinem Land erhoben hat. Damit wird vor allem bei den sehr jungen Spielern leicht ein unseliger Kreislauf in Gang gesetzt: Man trifft sich immer seltener mit Freunden, tut weniger für die Schule und bleibt nachts länger wach. „Wir haben es in der Beratung mit Menschen zu tun, die jeden Tag 14 bis 18 Stunden an ihrem Rechner sitzen“, berichtet Farke. Und bei Jugendlichen führt diese exzessive Computernutzung fast zwangsläufig zu Dauerstress mit den Eltern. Wenn die Erfolgserlebnisse in der realen Welt abnehmen, wird es umso wichtiger, in der virtuellen Welt des Rollenspiels jemand zu sein. Von „narzisstischem Symbolhandeln“ spricht der Pädagoge Wolfgang Bergmann, der in Hannover das Institut für Kinderpsychologie und Lerntherapie betreibt. „Da träumt sich ein Jugendlicher in eine Welt der Elfen hinein und muss es erleben, dass Mama an die Tür klopft und ihn mahnt, den Müll hinunterzubringen!“
Exzessives Spielen, Chatten, Surfen oder Kaufen im Netz als Sucht einzuordnen ist trotzdem ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke: Schließlich gibt es keinen „Stoff“, von dem man physisch abhängig werden könnte. Doch ganz wie bei Alkohol und anderen Drogen werden „Belohnungs“-Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet und bei Gewöhnung ist nachweislich eine Stimulation auf höherem Niveau nötig. Mittels moderner Bildgebung hat man inzwischen zeigen können, dass das Gehirn exzessiver Spieler auf entsprechende Reize deutlich anders reagiert als das von Kontrollpersonen. Auch das spricht für den Suchtcharakter. Nach Ansicht des Würzburger Psychiaters und Suchtforschers Jobst Böning kann man Verhaltensabhängigkeiten auch deutlich von Zwangsstörungen abgrenzen. Zwangshandlungen werden als nicht zur eigenen Person gehörig wahrgenommen. Das ist bei Suchtverhalten zumindest zu Beginn anders – schon allein wegen der damit verbundenen Belohnung. „Erlernt wird beides jedoch vom Gehirn auf den gleichen Wegen, deshalb tritt auch bei einer Sucht zwanghaftes Verhalten auf.“
Bei der Internetsucht ist die Gefahr besonders groß, dass dieser Prozess schleichend und unbemerkt verläuft. Sie ist schließlich eine unauffällige und sozial angepasste Abhängigkeit, wie der Psychotherapeut Eidenbenz hervorhebt: Die Flatrate macht das Surfen heute preiswert, zudem gehört es zum dynamisch-modernen Lebensstil, ständig aktuell informiert zu sein und seine E-Mails häufig zu checken.
Schon deshalb kann nicht Abstinenz, sondern kontrollierter Gebrauch das erklärte Ziel bei der Behandlung der verschiedenen Formen von Mediensucht sein. Auch in der Erziehung ist Abschottung kein sinnvolles Prinzip. „Eine Erziehung, die sich gegen die Medien richtet, behindert die Entwicklungschancen“, sagte Richard Wilmanns von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Bonn auf der Tagung.
Auch für Beratung und Hilfe ist das Internet unverzichtbar. Gabriele Farke weiß das am besten. „Wir finden die Betroffenen einfach nicht woanders. Sie sitzen im Netz, und genau da holen wir sie ab.“ Farke sicherte sich schon früh die Domain www.onlinesucht.de. Heute hat ihre Plattform bis zu 150 000 Zugriffe von Angehörigen und Betroffenen im Monat.
Adelheid Müller-Lissner
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