Nobelpreis-Kandidatin Charpentier aus Berlin: "Ich lebe noch immer wie ein Student"
Sie ist ein Weltstar der Biologie - und forscht in Berlin: Emmanuelle Charpentier über die Entdeckung der Genchirurgie und das Leben in der deutschen Hauptstadt.
Der Nobelpreis liegt in der Luft. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Entdeckung und Weiterentwicklung hochpräziser molekularer Genscheren – bekannt geworden unter dem Namen Crispr (sprich: Krisper) oder Crispr-Cas9 – mit dem höchsten Preis der Wissenschaft ausgezeichnet wird. Die revolutionäre Methode ist geeignet, Biologie und Medizin neue Wege zu weisen. Heiße Kandidatin für „den Nobel“ ist die Crispr-Mitentwicklerin Emmanuelle Charpentier, 47. Die Französin ist seit einem knappen Jahr Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin. 2015 nahm das amerikanische „Time“-Magazin die Biologin auf die Liste der „100 einflussreichsten Persönlichkeiten“ – zusammen mit ihrer US-Kollegin Jennifer Doudna.
Frau Charpentier, es vergeht kaum eine Woche, in der Sie nicht einen Forschungspreis entgegennehmen müssen, fast 40 sind es wohl schon. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass Ihnen der Trubel um die Genschere Crispr, die sie mitentdeckt haben, über den Kopf wächst?
Der Begriff „Entdeckung“ passt nicht richtig. Man sucht ja nicht nach etwas und findet es plötzlich, sondern man entschlüsselt über Monate und Jahre einen Mechanismus. Aber ja, der Crispr-Sturm nimmt viel Zeit in Anspruch, auch weil noch Informationsbedarf besteht.
Wird die Crispr-Entdeckung denn falsch wiedergegeben?
Ich bin nicht Wissenschaftlerin geworden, um mit den Medien zu sprechen. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass ich das tun muss. Zum einen, um zu erklären, dass die Crispr-Cas9-Geschichte in großen Teilen eine europäische ist, auch wenn sie erst in Zusammenarbeit mit amerikanischen Forschern zum Erfolg geführt hat. Zum anderen ist Crispr ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig Grundlagenforschung für den Fortschritt in der Biotechnologie und der Medizin ist und dass auch in kleineren Forschungsgruppen an weniger bekannten Forschungseinrichtungen interessante und wichtige Dinge erforscht werden.
Ihre Crispr-Geschichte beginnt mit einem kleinen Molekül, der tracrRNA, die entscheidend wichtig für das Funktionieren des Crispr-Cas9-Mechanismus ist. Bakterien wehren sich damit gegen Viren, indem sie deren Erbgut zerschneiden. Sie haben daraus eine Genschere gemacht, mit der auch menschliche Gene verändert werden können. Gab es einen Heureka-Moment?
Einen besonderen Heureka-Moment bei der Entdeckung der tracrRNA gab es nicht. Wir hatten schon lange an RNS-Molekülen geforscht, die bei „Streptococcus pyogenes“-Bakterien wichtige Funktionen übernehmen. Dabei stießen wir auf die tracrRNA. Ich hatte das Gefühl, dass diese von den Bakterien benötigt wird. Meine Mitarbeiter waren allerdings nicht begeistert davon, diese Idee in einem Experiment zu testen. Wir standen kurz vor dem Umzug nach Umeå, und niemand wollte „noch eine verrückte Idee“ testen. Aber Elitza Deltcheva, eine Masterstudentin, machte das Experiment dann doch. Und tatsächlich funktionierte die Aktivierung des Crispr-Systems von Streptococcus pyogenes nicht mehr, wenn die tracrRNA fehlte.
Das war der Durchbruch zum Verständnis des Crispr-Systems. Wann kam Jennifer Doudna ins Spiel, die mit Ihnen in einem Atemzug genannt wird und sich viele Preise mit Ihnen teilt?
Nachdem wir die tracrRNA entdeckt hatten, wollten wir Dutzende von Experimenten gleichzeitig machen. Ich hatte verschiedene Ideen. Aber wir mussten nach Umeå umziehen, das neue Labor war noch nicht etabliert. Auf einer Konferenz traf ich Jennifer Doudna, erzählte ihr, dass ich die Struktur des Genscheren-Enzyms Cas9 untersuchen wolle, und fragte sie, ob sie an einer Zusammenarbeit interessiert sei. Sie willigte ein.
Sie haben mit der tracrRNA das entscheidende Puzzleteil für die Entschlüsselung des Crispr-Systems gefunden, Sie hatten die Idee, eine universelle Genschere daraus zu machen, Sie überredeten Doudna zu einer Kooperation – sind Sie dann zufrieden mit der Art und Weise, wie die Crispr-Geschichte als eine Story von Charpentier und Doudna erzählt wird?
In der Tat wurden dazu viele Artikel geschrieben. Ich kann sie nicht alle lesen und kommentieren. Und die amerikanischen Medien betonen natürlich den Anteil amerikanischer Forscher an der Crispr-Geschichte. Das Wichtigste ist für mich jedoch, hervorzuheben, welch große Bedeutung Crispr-Cas9 für die Grundlagenforschung hat, und den Menschen die Möglichkeit zu geben, zu verstehen, wie das System funktioniert. Ich konzentriere mich auf sachliche Information, ein Hahnengeschrei, wie wir in Frankreich sagen, liegt mir nicht.
Der Hahn, der am lautesten kräht, steht in der Hackordnung am höchsten. Haben Sie versäumt, früh genug ihre Version der Geschichte zu erzählen?
Ich habe eben nur sehr begrenzt Zeit, um auf Medienanfragen zu reagieren.
Die Umzugskartons sind noch immer nicht ausgepackt
In der entscheidenden Veröffentlichung im Fachblatt „Science“, in der das Prinzip der universell nutzbaren Crispr-Cas9-Genschere am 17. August 2012 vorgestellt wurde, ist Jennifer Doudna Koautorin, aber Sie werden doch offiziell als einzige Hauptautorin genannt?
Richtig. Aber ich habe immer die Sache und die gemeinsame Leistung des Forscherteams und nicht meine Person in den Vordergrund gestellt. Mittlerweile habe ich gelernt, dass die Medien auch an den Personen hinter den Forschungsergebnissen interessiert sind.
Das Verhältnis zu Jennifer Doudna ist gut?
Ja, wir treffen uns regelmäßig bei Preisverleihungen und sind wirklich „gesegnet“, für unsere Forschung so viel Anerkennung zu bekommen. Das kostet allerdings so viel Zeit, dass es derzeit meine größte Herausforderung ist, Wissenschaftlerin zu bleiben und nicht nur Crispr, sondern auch meine anderen Forschungsprojekte zu verfolgen, die mir genauso am Herzen liegen.
Aufgrund ihrer Forschungen an der Crispr-Genschere werden sie als eine der nächsten Nobelpreisträgerinnen gehandelt und könnten an berühmten und reichen Institutionen wie dem Broad-Institut, der Stanford- oder der Harvard-Universität arbeiten. Warum sind Sie trotzdem nach Berlin gegangen?
Die finanziellen Bedingungen bei der Max-Planck-Gesellschaft sind ausgezeichnet. Wir haben hier alle Möglichkeiten, um Grundlagenforschung zu betreiben und Projekte zu verfolgen, die nur von Neugier getrieben sind. Der Umzug von Braunschweig nach Berlin war anstrengend, aber hat mein Forschungsteam nicht zu sehr beeinträchtigt. Allerdings hatten wir ein paar Probleme zu klären.
Sind diese Probleme womöglich der Grund dafür, dass Ihre Umzugskartons noch immer unausgepackt im Büro stehen?
Ja, es ist immer alles „auf dem Sprung“. Das zehrt an den Kräften, zumal das bei mir seit 25 Jahren so ist. Immer ist irgendetwas unausgepackt. Diesmal dauert das Auspacken allerdings besonders lang.
Bedeutet das, dass Berlin nur eine Zwischenstation ist?
Die Max-Planck-Gesellschaft ist weltweit bekannt als eine Institution, die Wissenschaftler großzügig ausstattet und nachhaltige und freie Grundlagenforschung ermöglicht. Aber Geld ist nicht alles. Auch die Organisation eines Instituts und das wissenschaftliche Umfeld sind wichtige Faktoren, um innovative und wettbewerbsfähige Forschung zu fördern. In Europa gibt es da mancherorts eine Neigung zum Konservatismus.
Inwiefern konservativ?
Ich muss sagen, dass ich das deutsche System noch nicht gut genug kenne. Aber in anderen Ländern wie Österreich oder Schweden sind Institute gut organisiert – mit weniger Bürokratie und Einschränkungen als hier.
Wenn Sie mit der Bürokratie hadern, warum sind Sie dann von Schweden ausgerechnet nach Deutschland gewechselt?
Wenn man etwas Aufregendes machen will, dann muss man sich in eine herausfordernde Situation begeben, ein Risiko eingehen. Deshalb bin ich von Wien nach Umeå in Schweden gegangen. Ich hatte ein gutes Gefühl, denn die Idee, mich mehr auf die Details des Mechanismus von Crispr-Cas9 zu konzentrieren, entstand während meiner Verhandlungen mit Schweden. Dort erhoffte ich mir, meine wissenschaftliche Nische zu finden. Als ich 2013 nach Braunschweig wechselte, war das Ziel ein ganz anderes. Da war schon klar, dass aus der Crispr-Sache etwas Großes werden wird, und dazu brauchte ich eine langfristige Forschungsmöglichkeit. Die Helmholtz-Gemeinschaft und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung boten mir eine Unterstützung an, die besser war als andere Angebote.
"Die Art und Weise, wie hier die Arbeitsabläufe funktionieren, das ist fast provinziell."
Wie arbeitet es sich in Berlin?
Anders als in New York ...
... wo Sie an der Rockefeller-Universität waren ...
... ist das Leben in Berlin eher entspannt. Oder sagen wir es so: Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob die Max-Planck-Gesellschaft ein Platz ist, der nur gute Leute kauft, oder ein Ort, der Forschern gute Bedingungen für Entdeckungen bietet. Berlin selbst ist, natürlich, eine Hauptstadt. Aber die Art und Weise, wie hier die Arbeitsabläufe funktionieren, das ist mitunter fast provinziell. Ich war sechs Monate so gut wie ohne administrative Unterstützung, die wirklich wichtig ist, um arbeiten zu können. Dieser Umzug nach Berlin – und ich habe viele Umzüge hinter mir – war schwierig. Auch weil die Zeit, sich dem Umbau und Aufbau eines neuen Labors zu widmen, so begrenzt ist. Es ist schwer, in dieser Situation gleichzeitig die wissenschaftliche Arbeit weiterzuführen. Die Wissenschaft in Berlin und Deutschland ist hervorragend und wird es auch bleiben – vorausgesetzt, die wissenschaftlichen Strukturen sind in der Lage, sich so zu verändern, dass sie international konkurrenzfähig bleiben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Charakteristisch für Deutschland ist das föderale System. Manches wird national, anderes von den einzelnen Bundesländern geregelt. Das mag für vieles gut funktionieren. Aber als unser Labor von Braunschweig nach Berlin umgezogen ist, mussten wir den ganzen Papierkram bezüglich der Sicherheitsregeln für unsere Arbeit mit bakteriellen Krankheitserregern noch einmal machen. Das finde ich wirklich nicht effektiv. Warum wird das nicht national geregelt? Man verliert unglaublich viel Zeit. Und außerdem ist die dafür zuständige Behörde in Berlin das Landesamt für Gesundheit und Soziales, und die war genau zu dieser Zeit wegen der Flüchtlinge völlig überlastet ...
Befürchten Sie, dass das Spitzenforscher abhält, nach Deutschland zu kommen?
Deutschland ist attraktiv für internationale Forscher, ohne Frage, weil die finanziellen Bedingungen für Spitzenforscher wettbewerbsfähig sind. Aber was die Konkurrenzfähigkeit zum Beispiel gegenüber London, Cambridge, Oxford betrifft ... Die Forschungsdichte dort ist substanziell. Die Herausforderung wird sein, in Berlin ein wissenschaftliches Umfeld auf lange Sicht zu entwickeln, das ausreichend wettbewerbsfähig und innovativ sein kann, um im Wettbewerb mit anderen Standorten Top-Plätze zu erlangen.
Mal von Genscheren und Forschungspolitik abgesehen. Leben Sie gern in Berlin?
Ich weiß es nicht. Noch nicht. Ich habe ja bisher kaum Zeit gehabt, mich umzusehen. Flughafen, Supermarkt, ein wenig Shopping. Ich habe noch nicht einmal eine Küche. Berlin hat zweifelsohne seine Lebensqualität, ist eine leicht zugängliche Stadt, nicht stressig. Aber mehr als Mitte, wo ich wohne und arbeite, habe ich noch nicht gesehen. Meine Eltern würden sagen, ich lebe noch immer wie ein Student. In den letzten 25 Jahren habe ich in 13 Wohnungen gelebt.
- Das Gespräch führte Sascha Karberg, Chefredakteur des Life-Science-Magazins „transkript“.