Ärzte und Empathie: "Ich könnte du sein"
Empathie und Einfühlungsvermögen sind ein zentraler Teil des ärztlichen Denkens und Handelns. Deswegen sollten sie ein Herzstück der Ausbildung sein. Ein Gastbeitrag.
Empathie – ein schwer zu fassender, wolkiger Begriff, der nicht nur Philosophen und Künstler, Neurobiologen und Mentaltrainer anzieht und fasziniert, ein Modewort geradezu, dem etwas Magisches anhaftet und mit dem wir Wärme und Zuwendung assoziieren. Ein Begriff jedoch auch, dessen Gehalt keineswegs unumstritten ist.
Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin sieht eine empathische Zivilisation heraufziehen; Jan Slaby, Philosoph an der Freien Universität Berlin, hingegen behauptet, Empathie, verstanden als der Versuch, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, sie zu erleben, wie der andere sie erlebt, wäre zweifellos sehr interessant; es funktioniere aber nicht, „weil ein empathischer Perspektivenwechsel grundsätzlich unmöglich“ sei. Der einflussreiche amerikanische Psychologe Paul Bloom, ein erklärter Empathiegegner, meint gar, Empathie sei „ein Bauchgefühl, das einen wegschwemmt“. Sollte dies auch für die Arzt-Patient-Beziehung zutreffen
Gelebte Menschlichkeit
Empathie – ein Begriff, der eingebettet ist in Zuhören und Verstehen; er signalisiert Nähe, zuhören können und Aufgehobenheit – in einem Wort: Gelebte Menschlichkeit. Die aber ist in unserer von Krisen, Ängsten und Orientierungslosigkeit geprägten Gesellschaft zu einem raren Gut geworden, auch und gerade in der Medizin, wo sie, Menschlichkeit und Empathie, von Patienten und Angehörigen allzu oft vermisst wird.
Das hat vielschichtige Gründe. Unter ihnen ist der Einzug des viel beklagten Ökonomisierungsdrucks in die ärztliche Versorgung sicher ein bedeutender. Wen wundert es heute noch, dass für sprechende Medizin kaum mehr Zeit bleibt und das Selbstverständnis manches Arztes als „Dokumentationsdrohne“ das eines zugewandten empathischen Arztes mehr und mehr überspielt? Und doch hat der viel beklagte Empathieverlust in der ärztlichen Versorgung tiefer liegende Gründe, denn nicht allein fehlende Zeit für Gespräch und Zuwendung ist es, die das, was Empathie meint, verhindert.
„Ich könnte du sein.“
Empathie bedeutet „einfühlendes Verstehen“; mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören zu können und es ihm mitzuteilen, das heißt zu spiegeln. Der australische Kognitionswissenschaftler Carl Rogers betont die „Als-ob“-Eigenschaft einer solchen Gesprächssituation: „Ich könnte du sein.“ Diese Als-ob-Eigenschaft eines aktiv Zuhörenden (die im Gespräch streng einzuhalten ist) ist keinesfalls zu verwechseln mit den Begriffen Mitgefühl und Sympathie, und schon gar nicht mit dem der Identifikation, die gerade das Gegenteil einer Als-ob-Situation darstellt. Sympathie ist eine wertende Zustimmung zu den Gefühlen und Ideen eines anderen; sie liegt damit, ebenso wie Mitgefühl und Mitleid, auf einer anderen Bezugsebene zum Patienten. Deswegen auch spricht Rogers nicht von der Gefühlswelt des anderen, sondern von seiner Wahrnehmungswelt. Ein Beispiel:
Patientin: Die Diagnose Brustkrebs hat mich zutiefst erschreckt ... sie traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel …
Arzt: Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist … Ihr Leben ist jetzt ein anderes … es scheint Ihnen völlig aus der Bahn geworfen … ist es das, was Sie meinen?
Patientin: Ja … Sie sagen es. Meinen Sie … dass ich mich je wieder wie ein gesunder Mensch fühlen werde?
Arzt: Ich weiß es nicht … versuchen Sie Mut zu fassen; ich tue mein Möglichstes für Sie … die Medizin steht ja nicht mit leeren Händen da …
Patientin: Glauben Sie wirklich, dass ich stark genug bin, die Therapie durchzustehen?
Arzt: Mein Eindruck ist, dass Sie nicht so schnell aufgeben … spüren Sie das nicht auch in sich?
Patientin: Ich kann kaum glauben, dass Sie mich so sehen … meinen Sie also, wir sollten morgen mit der Chemo beginnen?
Arzt: Je früher, desto besser … ich lege Ihnen persönlich die Infusion an … haben Sie einen Musikwunsch?
Was ist der Gehalt eines solchen Gesprächs? Die Patientin fühlt sich angenommen und verstanden. Spiegeln bedeutet für sie, dass sie Partnerschaft und Toleranz erfährt und zur Selbstreflexion ermutigt wird. Für den Arzt stellt Spiegeln eine klare Form patientenzentrierter Gesprächsführung dar, die ihm dennoch einen ausgewogenen Umgang von Nähe und Distanz zum Gegenüber ermöglicht. Spiegeln ist die wirksamste Methode, dem Patienten zu signalisieren, dass der Arzt ihm zuhört und „bei ihm“ ist.
Ärzten fällt es unterschiedlich leicht, eine solche Haltung einzunehmen, weil empathisches Verhalten Voraussetzungen erfordert, die sie oftmals nicht oder nur teilweise erfüllen. Da ist die ethische Grundhaltung des Arztes zu seiner Profession und sein persönliches Interesse an sozialem Engagement. Da ist seine Bereitschaft, sich emotional berühren zu lassen, damit umgehen zu können und nicht zuletzt seine Fähigkeit, die Qualität seiner Beziehung zum Patienten wahrzunehmen und durch Spiegelung zu beeinflussen. Manche Ärzte sehen sich im Verhältnis zu ihren Patienten dagegen mehr dem Gleichmut und der Leidenschaftslosigkeit verpflichtet. Empathie sei Illusion. Und doch finden Empathieseminare, die im Rahmen des Medizinstudiums angeboten werden, regen Zulauf. Anzeichen eines neuen Denkens künftiger Ärzte?
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Zu Beginn ihres Studiums sind die weitaus meisten Medizinstudenten hoch motiviert, beseelt von einer genuin empathischen Wallung, dem Patienten helfen zu wollen. Das Studium indes fokussiert auf wissenschaftliches Denken, auf Unvoreingenommenheit und Distanz zu seinem Gegenstand, dem Patienten. Im Zentrum der Lehr- und Lerninhalte steht die Aneignung anatomischer, pathophysiologischer, biochemischer und bioinformatischer Fakten und Prozesse. In den Fächern Anatomie und Pathologie widmen sich die Studenten dem toten menschlichen Körper, einem „passiven“ Patienten, der nicht klagt und dem man nicht zuhören muss. Zwangsläufig zielt die Aufmerksamkeit und Begeisterung der Studenten auf die Krankheit und die in ihr als Bild und Zahl sichtbar werdenden pathologischen Strukturen und Prozesse, nicht jedoch auf den kranken Menschen in seiner leidenden Ganzheit.
Hier liegt der Keim der Abhärtung des Arztes gegen seine natürlichen empathischen Regungen – der Entfremdung von sich selbst. Die Macht des Bildes und der Zahl, der Primat des Auges über das Ohr verfestigt sich während des weiteren ärztlichen Werdegangs, denn ohne Bild (Sonografie, Computertomografie etc.) und Zahlenwert (Laborwerte etc.) ist Medizin heute nicht denkbar.
Gesehen wird der individuelle Patient
Später, im Praxis- oder Stationsalltag, sprechen Ärzte nahezu immer über den „Fall“. Medizinische Befunde und Arztbriefe sind objektiv und unpersönlich. In ihnen kommt zum Ausdruck, was der Arzt gesehen und gemessen hat: Bild, Kurve und Zahl beweisen die Krankheit nicht nur, in ihnen realisiert und erlebt sie der Arzt. Und das, was gesehen und gemessen worden ist, wird anders und höher gewichtet als das mitgeteilte gesprochene Wort des Kranken. (18 Sekunden hören Ärzte im Mittel ihren Patienten zu, ehe sie diese unterbrechen!) Die Geschichte des Kranken anzuhören ist kompliziert und dauert meist zu lange. Schneller und effizienter als das Ohr – und auf Effizienz kommt es heute im Klinikbetrieb an – arbeitet das Auge.
Gesehen aber wird der individuelle Patient überwiegend als Modell, nicht als Person. In der Klinik ist es üblich, ihn zu Ausbildungszwecken als Lehrbeispiel und zur Illustration der Krankheit vorzuführen, wie ein Beispiel für die Unter- richtung junger Assistenten am Krankenbett zeigt: „Wir müssen uns unbedingt noch die grobknotige Leberzirrhose in der 28 anschauen“, so der Oberarzt. „Das kriegen Sie sobald nicht wieder zu sehen … der Patient zeigt exemplarisch sämtliche Zeichen der Leberzirrhose: Rötung der Handinnenflächen, Lebersternchen, Lackzunge, prominente Venen im Nabelbereich, Verweiblichung der Brust … was Sie wollen … der Patient bietet Ihnen einfach alles!“
Der Arzt subtrahiert den Patienten vom Krankheitsgeschehen
Kann man Empathie lehren? Ist sie ein Geschenk oder eine intuitive Fähigkeit? Ist sie den Ärzten im Getriebe einer technikorientierten Medizin verloren gegangen? Wie kann Empathie wiedergewonnen werden?
Die Forschung zeigt, dass unser Gehirn seine Struktur und die meisten seiner Synapsen zwar in der Kindheit ausbildet; doch gibt es Hinweise dafür, dass sich auch später noch, wenn auch langsamer, Kognition und Emotionen durch neue neurale Verknüpfungen verändern können. Eben das aber erfordert reale Einübung von Welterfahrung, die Öffnung für die zahllosen und reichhaltigen Facetten menschlichen Lebens und menschlicher Schicksale ebenso wie ihre fiktive Aneignung, wie sie in den Geschichten großer Leidender und ihrer Krankheiten, erschaffen etwa in den Werken von Thomas Mann und Marcel Proust, Christoph Schlingensief, Wolfgang Herrndorf oder John Updike zum Ausdruck kommt. In seinem Roman „Rabbit in Ruhe“ teilt Updike mehr über die Symptomatik einer Herzattacke und darüber mit, was es heißt, ein Liebhaber mit Schuppenflechte zu sein, als manches Lehrbuch.
Zu wenige Ärzte geben dem mitgeteilten Leben des Kranken den Raum, der zur Differenzierung seines Leidens und seiner Symptome notwendig und entscheidender Bestandteil der Krankheitsbewältigung ist. Vielmehr wird der Kranke dekonstruiert, indem der Arzt den Patienten vom Krankheitsgeschehen „subtrahiert“, um den Krankheitsprozess sicht- und behandelbar zu machen. „Der Patient wird in Parenthese gesetzt, erst dann ist medizinisches Handeln möglich“, bringt es der amerikanische Arzt Richard Baron, der dieses Credo der Medizin heftig kritisiert, auf den Punkt.
Ärztliche Empathie stärkt den Patienten
Allzu oft noch denken Ärzte in einer Art binärem System: Bösartige Zellen oder gutartige; pathologischer Laborwert oder Normwert; Hypertonus oder Normotonus; gesund oder krank. Gute Ärzte aber haben sich analoges Denken nicht austreiben lassen, und ihr ärztliches Handeln macht Gebrauch von beidem: von der Wissenschaft ebenso wie von Geschichte und Biografie des Kranken, von rationalem Urteilen ebenso wie von intuitivem Verstehen.
Empathie ist alles andere als Illusion. Sie vermittelt mehr als das bloße Bild, das wir vom Kranken wahrnehmen. Sie lässt uns vielmehr sagen: „Ich könnte du sein“, eine Erkenntnis, die zugleich eine Gemütsbewegung, eine Emotion hervorruft, die ihrerseits wiederum den Impuls, Hilfe zu leisten, auslöst. Indes bildet Empathie nicht allein den Boden für alle Qualitäten eines dem Humanismus verpflichteten Arztes. Ganz entscheidend ist, dass ärztliche Empathie den Patienten motiviert und stärkt, seine Ressourcen freilegt und seine Therapietreue erhöht. Empathie wird damit zu einem zentralen und messbaren Faktor des Behandlungserfolgs, wie Studien belegen konnten.
Empathie – eher eine Haltung denn eine Technik – hilft nicht allein dem Patienten, seine Krankheit zu bewältigen. Sie hilft auch dem Arzt, sich mit sich selbst und seinen Gefühlen zu konfrontieren und mit ihnen professionell umzugehen. Umso mehr sollte für angehende Ärztinnen und Ärzte gelten, dass das Einüben empathischen Verhaltens nicht früh genug einsetzen kann.
Der Autor ist Chefarzt a. D. und Buchautor („Welche Medizin wollen wir“).