Politische Philosophie: Ich bin du: Judith Butler an der FU
Nicht betrauerte Opfer: Die bedeutende amerikanische Feministin wirbt für eine Ethik der Verletzlichkeit.
Alle paar Jahre kommt Judith Butler nach Berlin, und jedes Mal ist es für die scientific community ein Ereignis. So war es auch am Dienstagabend an der Freien Universität, wo Butler die Hegel-Lecture des Dahlem Humanities Center hielt. Schon über eine Stunde vor Beginn ihrer Vorlesung drängten sich hunderte Studierende und Wissenschaftler vor dem Audimax des Henry-Ford-Baus. Die vier weiteren Hörsäle, in die die Veranstaltung per Video übertragen wurde, waren ebenfalls überfüllt, und am Schluss musste Butler sich gegen die Autogrammwünsche ihrer Fans wehren: "Das ist jetzt aber das letzte!"
Butler ist mit ihren poststrukturalistischen Beiträgen zur Geschlechterforschung in den neunziger Jahren berühmt geworden, Bücher wie "Gender Trouble" (1990, dt.: "Das Unbehagen der Geschlechter") und "Bodies that matter" (1997, dt.: "Körper von Gewicht") wurden zu akademischen Bestsellern und beeinflussen seither die Lehrpläne und die Forschungsagenden westlicher Universitäten.
Seit dem Terroranschlag auf die Twin-Towers und dem Einmarsch der Amerikaner in den Irak und in Afghanistan hat sich die Philosophin, in Berkeley Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaft, dem Thema Krieg zugewandt. In fünf politischen Essays, zusammengefasst in "Precarious Life: The Power of Mourning and Violence" (2004, dt. "Gefährdetes Leben"), kritisiert sie Zensur und Anti-Intellektualismus in den USA als Antwort auf den Terror ebenso wie die Entrechtung der Guantanamo-Häftlinge und den moralischen Relativismus, mit dem ihrer Ansicht nach die von den "mainstream Medien" und den Regierenden beeinflusste Gesellschaft zwischen Kriegsopfern unterscheidet, die "betrauernswürdig" ("grievable") sind und solchen, denen dieser Status nicht zukommt - mit der Folge, dass Krieg als Reaktion auf die eigene Trauer über die Terroropfer als akzeptable Antwort erscheint. Hier schließt Butlers Vortrag an der Freien Universität über "Frames of War" an, was auch der Titel eines demnächst erscheinenden Buches ist.
Ich kann es nur mit den Anderen geben
Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht die Verletzlichkeit ("precariousness") des Menschen und seine radikale Abhängigkeit von anderen. Butler beruft sich dabei auf Hegel: Das Ich kann sich nur als Ich wahrnehmen, weil es ein Gegenüber gibt, von dem es sich unterscheidet, den Anderen. Damit aber steht das Ich dem Anderen schon nicht mehr nur gegenüber: Es ist dermaßen auf diesen angewiesen, dass es sich in ihm verdoppelt - während der Andere sich im eigenen Ich wahrnimmt und verdoppelt. So ist das Subjekt, das Ich bin, aufs engste an das Subjekt gebunden, das Ich nicht bin. Den Anderen zu töten, bedeutet deshalb, mein eigenes Leben zu zerstören. "Das eigene Leben liegt in den Händen des Anderen" - wie sehr der Mensch von seinem sozialen Umfeld abhängt, hat Butler jenseits solcher "Phänomenologie des Geistes" oft genug beschrieben.
Trotz dieser existenziellen Abhängigkeit und der daraus resultierenden Verletzlichkeit des Menschen, produzieren "der Staat" und "dominante Medien" laut Butler aber eine Wahrnehmung vom Anderen, die diesem die Voraussetzung dafür abspricht, überhaupt als wertvolles Leben anerkannt zu werden: Sein Tod wird als nicht "betrauernswürdig", als "not grievable" dargestellt. So, wenn US-Medien und -Politiker eigene Verluste "laut beklagen", der getötete Feind aber gesichtslos bleibt: Für ihn werden keine Traueranzeigen mit Foto und Lebenslauf in den Zeitungen geschaltet, Bilder von verstümmelten Opfern der Bombenangriffe bleiben in den Filtern der "mainstream Medien" hängen. Eben das aber ermöglicht der Gesellschaft, zum Anderen emotional auf Distanz zu gehen, dessen Angewiesensein auf Behausung, Nahrung und Unversehrtheit nicht anzuerkennen und ihn anders als die "eigenen" Opfer "unbetrauerbar" zu machen.
Normen bestimmen die Wahrnehmung: Butler verwendet dafür die Metapher des Rahmens ("frame"). Ein Bilderrahmen schmückt das Bild nicht nur, seine Gestaltung stellt auch einen Kommentar zum Bild dar und steuert dessen Interpretation durch den Betrachter. Im Englischen bedeutet "to frame somebody" aber auch, jemandem wider besseren Wissens etwas anzuhängen, so wie die Polizei jemandem etwas anhängen kann, um mit falschen Anschuldigungen seine Schuld zu beweisen, sagte Butler. Wahrnehmungsmuster sind aber veränderbar. Das illustrierte Butler am Beispiel der Fotos von Folteropfern in Abu Ghraib. Mit ihrem Auftauchen im Internet, also ihrer Bewegung durch Zeit und Raum, veränderte sich die den Fotos ursprünglich zugedachte Wahrnehmung. Was amerikanische Soldatinnen und Soldaten zur eigenen Unterhaltung angefertigt hatten, führte in der Öffentlichkeit zu äußerster Empörung - dem neuen Rahmen für die Fotos, ihrer neuen Wahrnehmung, die sich durchaus auf das Verhalten des amerikanischen Militärs auswirken kann.
Gegen Israel - aber nicht antisemitisch
Die Welt wird von uns gemacht, sie ist veränderbar - das war schon die idealistische Botschaft, die Butlers Geschlechterforschung für viele so attraktiv macht. Aus der "Diskursivität" der Rahmen leitet Butler jetzt ihre Forderung an die kritischen Medien und die "Linke" ab: Sie sollen Autoritäten, die die Verwundbarkeit des anderen in ihren Normsetzungen nicht anerkennen, "stören" und "unterlaufen", aus der Kontrolle ausbrechen, die Rahmen sprengen. Dann können neue, gerechte Wahrnehmungen und Normen entstehen, in denen Egalität herrscht, wenn es um menschliche Verletzlichkeit geht. Als Beispiele für Gruppen, die von der dominanten Gesellschaft als "not grievable" eingstuft würden, erwähnte Butler, selbst lesbisch und Abkömmling einer Familie mit ungarischen und russischen Wurzeln, Homosexuelle und Einwanderer. Ein Beispiel für einen Krieg gegen eine als "not grievable" erklärte Bevölkerung sieht Butler im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Israel müsse begreifen, dass sein Überleben nicht dadurch gesichert werden kann, dass es den Anderen (die Palästinenser) zerstört. Im Gegenteil sei Israels Überleben im Überleben der Anderen enthalten.
Es ist nicht das erste Mal, das Butler Israels Politik gegenüber den Palästinensern kritisiert. So unterschrieb sie eine von über 50 Künstlern und Intellektuellen veröffentlichte "Todesanzeige" in der "Herald Tribune" zum 60. Tag der Staatsgründung Israels. In einer scharfsinnigen Analyse ("No, it''s not anti-semitic") widersprach sie der etwa vom damaligen Harvard-Präsidenten und heutigen wirtschaftlichen Chef-Berater Obamas, Lawrence Summers, vorgetragenen Behauptung, Israel-Kritik sei immer antisemitisch. Juden seien keineswegs mit Israel und dem Zionismus identisch, schrieb Butler. Wer jedem Israel-Kritiker Antisemitismus vorwerfe, zensiere nicht nur die öffentliche Rede, er mache berechtigte Vorwürfe gegen Antisemitismus auch zu einem stumpfen Schwert.
Butler kommt aus einer Familie, aus der mehrere Mitglieder im Holocaust ermordet wurden. Eben deshalb sieht sie sich in der Pflicht, für "gefährdetes Leben" einzutreten, hat sie erklärt: Ein Verbrechen könne nicht durch ein anderes gerechtfertigt werden. Daraus aber folgt, wie sie an der FU formulierte: "Wir müssen lernen, mit denen zu leben, die wir nicht kennen. Denn wir sind auf sie angewiesen."
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