Anthropologie: Hyperaktive im Vorteil
Von Natur aus Nervöse überlebten als Nomaden vielleicht besser. Warum die Störung manchmal nützlich ist.
Ständige Unruhe und Bewegungsdrang, Unberechenbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen – das sind typische Symptome des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS). Diese Störung ist bis zu einem gewissen Grad genetisch bedingt, in der westlichen Welt sollen bis zu neun Prozent der Kinder im Grundschulalter unter ihr leiden. Diese beiden Umstände lassen darauf schließen, dass es irgendwann in der menschlichen Evolutionsgeschichte von Vorteil gewesen sein könnte, für dieses Syndrom veranlagt zu sein.
Tatsächlich könnte es sich genauso verhalten. Hierauf deuten die Befunde hin, zu denen kürzlich der US-Anthropologe Dan Eisenberg (Northwestern University in Evanston) und seine Mitarbeiter gelangt sind. Sie berichten über ihre Forschungsergebnisse im Fachjournal „BMC Evolutionary Biology“.
Die Forscher untersuchten zwei Gruppen der Ariaal, ein Volk aus dem Norden Kenias. Die eine Gruppe hält nach wie vor an ihrer traditionellen nomadischen Lebensweise fest, während die andere mittlerweile sesshaft geworden ist und begonnen hat, Getreide anzubauen.
Dan Eisenberg und sein Team befassten sich in Erbgutanalysen ausschließlich mit dem DRD4-Gen. Dieses Gen enthält die Bauanleitung für diejenigen Andockstellen (Rezeptoren) im Gehirn, die auf den Botenstoff Dopamin reagieren. Dieses Gen spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Hungergefühls. Es wird außerdem mit Eigenschaften wie Impulsivität, Ruhelosigkeit und Neugierde sowie mit suchtartigen Verhaltensweisen und dem an Belohnung orientierten Lernverhalten in Verbindung gebracht.
Von den Dutzenden von Varianten, in denen das DRD4-Gen vorkommen kann, ist eine – das 7R-Allel – seit längerem dafür bekannt, das Auftreten von ADHS zu begünstigen. Man schätzt, dass ungefähr die Hälfte aller Kinder, die unter dieser Störung leiden, Träger der 7R-Variante sind. Als Eisenberg und sein Team die Genproben verglichen, stellten sie fest, dass die Spielart 7R bei beiden Ariaal-Gruppen im Wesentlichen gleich häufig zu finden ist.
Doch sowohl beim Körpergewicht als auch bei der allgemeinen körperlichen Verfassung zeigten sich deutliche Unterschiede: Die nomadisch lebenden Ariaal mit der Genvariante waren im Durchschnitt erheblich besser ernährt und insgesamt gesünder als ihre sesshaften Verwandten ohne diese Veranlagung. Eisenberg schließt daraus, dass es für Nomaden ausgesprochen nützlich sein kann, mit dem 7R-Allel ausgerüstet zu sein.
„Es ist möglich“, erklärt er, „dass ein Junge in einer nomadischen Umgebung dank dieser genetischen Variante besonders gut darin ist, das Vieh gegen Überfälle zu verteidigen oder Nahrung und Wasserquellen ausfindig zu machen. Dieselben Fähigkeiten dürften allerdings nicht zuträglich sein, wenn es um dauerhafte Beschäftigungen geht: sich in der Schule zu konzentrieren, Landwirtschaft zu treiben oder mit Gütern zu handeln.“ Frank Ufen
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