Soziologie: Horkheimers neue Flaschenpost
Entscheidende Impulse für die empirische Soziologie: Der Einfluss der Frankfurter Schule im Exil war größer als bislang gedacht.
Wie ihm das Haus Nr. 429 gefalle, wurde Max Horkheimer nach einem Rundgang über den Campus der New Yorker Columbia-Universität gefragt. „Sehr gut“, antwortete er. „Dann können Sie dieses Haus für Ihr Institut haben“, beschied ihn daraufhin Nicholas Murray Butler, der Präsident von Columbia. Und damit war besagtes Institut, das aus Frankfurt am Main emigrierte Institut für Sozialforschung, als „Institute for Social Research“ im Mai 1934 an die berühmte Universität angeschlossen.
So jedenfalls hat es Horkheimer berichtet. Aus seinem Privatbesitz stammt auch die Fotografie des Gebäudes an der 117. Straße in Morningside Heights, dem Areal der Universität im oberen Manhattan. Die Hausnummer auf dem typischen Brownstone, dem Reihenhaus mit dunkelbrauner Sandsteinfassade, ist offenbar von Hand nachretuschiert worden. Das unscheinbare Gebäude wurde zum Zentrum der „Kritischen Theorie“, die lange nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Siegeszug durch die bundesdeutschen Sozialwissenschaften antrat.
Das ist, nach dem Höhepunkt rings um die Studentenbewegung von 1968, bereits wieder Geschichte. Hierzulande wird die Frankfurter Schule allenfalls als marxistisch orientierte Sozialtheorie betrachtet. Aus dem Blick geraten ist, dass das Institut ein zwar sozialphilosophisch, aber ebenso soziologisch und empirisch ausgerichtetes Forschungsinstitut war und nicht, wie es zumal das Werk Theodor Adornos nahelegt, eine Denkschule vor allem ästhetischer Philosophie. Die Umstände, die zum Anschluss des Instituts an die renommierte und alles andere als politisch auch nur irgendwie links orientierte Columbia University zwischen 1934 und 1950 führten, sind vergessen oder waren, besser gesagt, nie der Nachforschung wert. Horkheimers berühmtes Diktum aus dem amerikanischen Exil über die Theorie als „Flaschenpost“ verdunkelt die große Nähe, die das Institut allein schon wegen seiner New Yorker Nachbarschaft zum amerikanischen Geistesleben hatte.
Dieser Nähe und den wechselseitigen Einflüssen wie allerdings auch Abstoßungen ist der amerikanische Historiker Thomas Wheatland in seinem Buch „The Frankfurt School in Exile“ nachgegangen. Es wird künftig neben den umfassenden Darstellungen von Martin Jay („The Dialectical Imagination“, 1973, dt. 1976) und Rolf Wiggershaus („Die Frankfurter Schule“, 1987) herangezogen werden müssen, wenn nach Ursprung und Verlauf der Kritischen Theorie gefragt wird.
Gewiss geht es Wheatland nur um einen Ausschnitt der Geschichte des Instituts. Doch hat „die Ablehnung positivistischer Sozialwissenschaft seitens Adornos in der Nachkriegszeit dazu beigetragen, eine bedeutende Epoche in der Beziehung des Instituts zur amerikanischen Soziologie zu verschleiern“. Wheatland, der erstmals die Akten der Universität examiniert hat, kann daraus zwar den eingangs erzählten Bericht Horkheimers nicht belegen. Stattdessen macht er deutlich, wie Horkheimers Suche nach einem sicheren Exil für das an seinem Heimatort bereits geschlossene Institut mit dem Bedürfnis der Universität zusammentraf, die Soziologie-Abteilung neu und zukunftsträchtig auszurichten.
Die Soziologie in Columbia – mit der Politischen Wissenschaft in einem Department zusammengefasst – hatte ihre jahrelang ausgeübte Vorrangstellung in den USA an Chicago eingebüßt. Die dort erarbeiteten empirischen Studien insbesondere zur amerikanischen Kleinstadt boten ein reiches Feld für weitere Forschungen. Columbia suchte Anschluss an diese Tendenz, ohne jedoch in den Jahren der Weltwirtschaftskrise – die in den USA bis zum Zweiten Weltkrieg empfindlich spürbar blieb – entsprechende Mittel aufbringen zu können. In dieser Lage kam das Frankfurter Institut gerade recht. Anders, als es die sehr viel spätere Rezeption der „Kritischen Theorie“ wahrhaben wollte, waren es gerade nicht die theoretischen, in der legendären „Zeitschrift für Sozialforschung“ publizierten Aufsätze, die in New York gelesen wurden, sondern die empirischen Studien.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Rolle des damaligen Institutsmitglieds Erich Fromm schärfere Kontur. Bereits in Genf, der Zwischenstation des Instituts auf der Suche nach seiner Zukunft, entstanden große Teile der „Studien über Autorität und Familie“, die die empirische Anwendbarkeit psychoanalytischer Kategorien demonstrierten. „Der Gebrauch der Psychoanalyse in den ,Studien’ bedeutete eine signifikante Innovation in der soziologischen Forschung“, resümiert Wheatland. Fromm als bereits namhafter Freudianer hatte seit 1932 enge Kontakte zur scientific community insbesondere im konkurrierenden Chicago. Seine Mitgliedschaft im Frankfurter Institut – im „Horkheimer Circle“, wie Wheatland es stets umschreibt, verbunden mit einer überzeichnet negativen Darstellung des Institutsdirektors –, war ein gewichtiger Faktor beim Engagement von Columbia. In Morningside Heights griff Fromm die Studien über die deutsche Arbeiterklasse aus der Frankfurter Zeit wieder auf – und er engagierte als Assistenten Paul Lazarsfeld.
Lazarsfeld hatte sich mit der gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Marie Jahoda im Jahr 1932 durchgeführten Studie der „Arbeitslosen von Marienthal“ einen Namen gemacht. Darin werden die sozialen Folgewirkungen der Arbeitslosigkeit in einem davon schwer getroffenen österreichischen Industriedorf untersucht. „Marienthal“ ist ein Klassiker der Sozialforschung, vielleicht weniger gelesen als mit seinem Titel zitiert, aber gleichwohl ein Beleg für den international führenden Stand der deutschsprachigen Soziologie am Vorabend des Hitler-Regimes.
In New York arbeitete sich Lazarsfeld sehr schnell in empirische Studien zur amerikanischen Gesellschaft ein, insbesondere im Bereich der Arbeits- und Industriesoziologie. Von Erich Fromm, der sich mit Horkheimer überworfen hatte und 1939 das Institut verließ – was Horkheimers Reputation empfindlich schadete –, übernahm Lazarsfeld die Leitung des Radio Research Project, einem Studienvorhaben zur Wirkung der Massenmedien. Daraus ging alsbald sein „Bureau of Applied Social Research“ hervor, mit dem Lazarsfeld eine für Columbia unentbehrliche Stellung errang. Ihm wurde schließlich seitens der Universität die Verhandlungsführung gegenüber Horkheimer übertragen, als es 1944/45 um den Verbleib des Instituts auf Morningside Heights ging. Das Exil-Institut und seine Räume in 429 W 117 St. blieben übrigens stets unter polizeilicher Beobachtung, auch seitens des Geheimdienstes, der hinter vermeintlichen Nazis her war.
In den Kriegsjahren kam das Institut, dessen Mitglieder inzwischen über ganz Amerika verstreut waren – wobei Horkheimer und sein engster Mitstreiter Theodor Adorno in Kalifornien an der „Dialektik der Aufklärung“ arbeiteten – zu seinem letzten amerikanischen Erfolg: die 1943/44 begonnenen „Studies in Prejudice“ über den Antisemitismus, die vollständig allerdings erst 1950 unter dem Titel „The Authoritarian Personality“ veröffentlicht wurden. Da hatte Horkheimer bereits das Angebot der Frankfurter Universität zur Rückkehr und Annahme eines Lehrstuhls für Soziologie und Philosophie angenommen.
Die spätere Deutung der Exilgeschichte hat den Eindruck vermittelt, als habe es sich um Brotarbeiten gehandelt, die das Überleben des Instituts sicherten. Wheatland urteilt anders: „Weit davon entfernt, bloße Anhängsel der theoretischen Schriften zu sein, die in der ,Zeitschrift für Sozialforschung’ erschienen, sind die empirischen Forschungsprojekte von der Gesellschaftstheorie untrennbar, die das Institut im Europa der frühen dreißiger Jahre gebildet hatte.“ Es gab eine wechselseitige Befruchtung. Die amerikanische Soziologie öffnete sich der Gesellschaftstheorie und der Psychoanalyse. Umgekehrt blieb der „Horkheimer-Kreis“ „zwar der Sozialphilosophie zutiefst verhaftet, doch war eine seiner wichtigsten Leistungen im Nachkriegsdeutschland die Einführung amerikanischer Untersuchungsmethoden“. Zu Unrecht vergessen sind Studien des „neuen“ Frankfurter Instituts wie „Student und Politik“ von 1961 unter maßgeblicher Mitarbeit von Jürgen Habermas und des unlängst verstorbenen späteren hessischen Kultusministers Ludwig von Friedeburg.
Die Frankfurter Exilanten blieben, alles in allem, dennoch Außenseiter. Allein schon ihr finanzielles Wohlergehen, abgesichert durch die von Horkheimers engstem Freund Friedrich Pollock klug angelegten Stiftungsmittel aus der Frankfurter Gründungszeit, schuf erhebliche Distanz inmitten der öffentlichen Armut der Depression Years. Die Kritische Theorie, so Wheatland pointiert, war „ein Akt der Nostalgie, ein Verlangen nach der einfacheren und fragileren Welt des klassischen Bürgertums“. Unwillkürlich kommt einem Georg Lukacs’ Sottise vom Institut als „Grand Hotel Abgrund“ in den Sinn. Horkheimer und Adorno, die wie so viele Instituts-Intellektuelle jenem Milieu entstammten, das sie kritisierten, wussten, dass die Welt nach 1945 diejenige der Massenkultur wurde, die noch die Kritik an ihr unweigerlich in sich aufsaugt.
„Obwohl die Frankfurter Schule in Deutschland entstand, hat sie ihre prägenden Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht“, schließt Wheatland sein Buch, ein herausragendes Beispiel von intellectual history. Man darf den Satz als Appell verstehen, das intellektuelle Erbe des Instituts für Sozialforschung auch im Land seines damaligen Exils zu bewahren. Denn an der Columbia-Universität sind „seit den sechziger Jahren keine Spuren des Horkheimer-Kreises mehr zu finden, es sei denn, tief vergraben im Universitätsarchiv“.
Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile. University of Minnesota Press, Minneapolis/London 2009, 415 Seiten, 39,99 Euro.
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