Wissen: Hilfe für Kurzsichtige?
Der Wirkstoff Pirenzepin soll Kinder vor dem Verlust der Sehkraft schützen
In Europa sind rund 9,6 Millionen Kinder kurzsichtig, in einigen asiatischen Ländern wie Singapur oder Taiwan tragen mehr als 80 Prozent der Oberschüler eine Brille. Gesundheitsexperten sprechen von einer „Epidemie“ der Fehlsichtigkeit. In den USA versuchen Augenärzte jetzt mit einem Medikament, das als Gel ins Auge eingebracht wird, das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit, die sich in für Eltern wie Kindern oft frustrierend schnell stärker werdenden Brillengläsern manifestiert, aufzuhalten.
Es ist eine Erfahrung, die Tausende von Kindern und Heranwachsenden, meist irgendwann im Alter zwischen acht und 14 Jahren, machen: die Schrift an der Tafel oder auf dem Fernsehbildschirm erscheint undeutlich, also geht man, meist mit der Mutter, zum Augenarzt. Hat man die Warterei überstanden, entdeckt dieser die Ursache, warum ferne Objekte nur noch verschwommen wahrgenommen werden können, schnell: Kurzsichtigkeit, in der Fachsprache Myopie genannt. Eine Brille wird verschrieben, von minus eins oder minus 1,25 Dioptrien. Das Kind sieht wieder deutlich – für ein Jahr, dann beginnt die Unschärfe von neuem und die Brille wird verstärkt: minus zwei oder minus 2,5 Dioptrien. Fortsetzung folgt, in regelmäßigen Abständen.
Kurzsichtigkeit wird durch genetische Faktoren gefördert, aber es gibt auch Hinweise darauf, dass Naharbeit eine Rolle bei der Entstehung spielt. Was heute in der Praxis heißt: lesen, am Computer arbeiten oder spielen. Die Akkommodation, die Scharfeinstellung auf die Nähe, führt möglicherweise zu einer Ausschüttung von Botenstoffen, die das Wachstum des jugendlichen Auges anregen. Denn kurzsichtige Augen sind in aller Regel im Vergleich zu normalsichtigen zu lang.
Viele Teenager tragen eine Brille
In zahlreichen südostasiatischen Ländern geht die Freude am Computer und der Lerneifer einer aufstrebenden Gesellschaftsdynamik Hand in Hand. Das Ergebnis zeigt ein Blick durch die Klassenzimmer einer High School in Singapur, Bangkok oder Taipeh: Fast alle Teenager tragen dort eine Brille, die Minderzahl mit brillenfreiem Gesicht benutzt oft Kontaktlinsen oder hat schon eine Lasik, einen laserchirurgischen Eingriff hinter sich. In Asien sind fast 58 Millionen Kinder und Jugendliche kurzsichtig, weltweit wird ihre Zahl auf mehr als 80 Millionen geschätzt.
Ein logischer Ansatz, um ein überschießendes Augenwachstum und damit eine Zunahme der Kurzsichtigkeit zu verhindern, wäre es, die Akkommodation, also die Fähigkeit zur Nahfixation zu unterbinden. Diese etwas brachiale Maßnahme hat man mit verschiedenen Pharmaka versucht, effektiv war nur das (vor allem in Taiwan) eingesetzte Atropin. In der Tat nahm die Kurzsichtigkeit bei jenen Kindern, die dieses die Pupille stark erweiternde Mittel als Augentropfen täglich erhielten, gar nicht oder nur in geringem Maße zu.
Doch der Preis für diesen Erfolg war hoch, zu hoch: das Nahsehen wurde massiv erschwert, die Lichtempfindlichkeit war durch die weite Pupille oft fast unerträglich. Folglich brachen die meisten Anwender diese „Therapie“ ab.
Erste Ergebnisse sind vielversprechend
In den USA läuft zur Zeit eine Studie mit dem Wirkstoff Pirenzepin, das dem Atropin verwandt ist, aber keine so gravierenden Wirkungen auf das Sehvermögen hat. Wie Studienleiter Michael Siatkowski von der Universität von Oklahoma, jetzt auf einem Fachkongress der amerikanischen und europäischen Augenärzte in Atlanta erklärte, mindert Pirenzepin die Akkommodationsfähigkeit des jugendlichen Auges, doch geschieht dies sanfter als mit Atropin.
Ein Auge, dem Pirenzepin eingeben wurde, zeigt eine nur mäßige Pupillenerweiterung auf 1,5 Millimeter; nach Atropin sind es im Schnitt sieben Millimeter. Folglich ist die Lichtempfindlichkeit fast normal, die Nahsehfähigkeit ist leicht, aber nicht unakzeptabel eingeschränkt. Gerade genug, um einer allzu langen Beschäftigung mit dem neuesten Computerspiel oder dem jüngsten Harry-Potter-Band vorzubeugen. In der amerikanischen Studie wird 174 Kindern im Alter zwischen acht und zwölf Jahren entweder zweimal täglich der Wirkstoff in Form eines Gels ins Auge appliziert oder ein gleichfalls gelförmiges Scheinmedikament (Placebo). Die jungen Probanden, die zu Beginn der Untersuchung im Schnitt minus 2,1 Dioptrien (in der Pirenzepin-Gruppe) oder minus 1,93 Dioptrien (in der Placebo-Gruppe) kurzsichtig waren, hatten eine interessante Weiterentwicklung der Myopie. Während bei denjenigen, die ein Placebo erhalten hatten, die Kurzsichtigkeit nach zwei Jahren um ein Dioptrien zugenommen hatte, war es in der Pirenzepin-Gruppe zu einer Verschlechterung um durchschnittlich nur 0,58 Dioptrien gekommen.
Die Studie soll über vier Jahre fortgesetzt werden und belegen, ob mit dem Wirkstoff eine so deutliche Verminderung in der Zunahme einer jugendlichen Kurzsichtigkeit erzielt werden kann, dass der Aufwand – zweimal tägliches Einschmieren eines Gels ins Auge – und die Belastungen – eine eingeschränkte Sehfähigkeit in der Nähe – im Vergleich zum Ergebnis gerechtfertigt ist.
Sollte Pirenzepin sich als wirklich erfolgreich erweisen, muss geklärt werden, in welchem Alter eine solche Prophylaxe begonnen werden kann und wie lange sie dauern sollte. Die in den USA bekannt gewordenen ersten Ergebnisse der Studie haben immerhin bei zahlreichen um die Augen ihrer Kinder besorgten Eltern hohe Aufmerksamkeit ausgelöst. Siatkowski berichtete auf dem Kongress in Atlanta, dass sich Familien mit kurzsichtigen Kindern den in den USA nicht zugelassenen Wirkstoff in Europa, oft per Internet, besorgt haben, um auf eigene Faust der Myopie vorzubeugen.
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